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Jorden


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Leseprobe:


Kapitel 1 – Tjarven

Tjarven Arnorson betrat seit langem die betagte Bierschenke, die ihn an seine Jugend und an frühere Freunde erinnerte. Es roch modrig und faulig, irgendwie alt und doch bekannt und vertraut. Mit jedem Schritt, den er vorwärts humpelte, kamen die Erinnerungen zurück. Beinahe wehmütig dachte er an die Zeiten, als alles anders war. Besser. Leichter. Erträglicher.
An den Wänden hingen noch heute die zahlreichen Hirschgeweihe und an der Decke flackerten die Kerzen in den Kronleuchtern, als wären sie seit jeher nicht verglüht.
Tjarven stützte sich auf den Gehstock, sah sich um und stöhnte einmal auf. An dem ehemaligen Stammtisch, wo er einst mit seinen Kumpanen gesessen und Karten gespielt hatte, gesellten sich nun junge, kräftige Burschen, tranken Bier und flirteten mit der Wirtin.
Um sich blickend entdeckte er einen freien Tisch rechts neben der Tür. Ein Luftzug pfiff an diesem Platz durch die hölzernen Wände, weswegen dort wohl niemand saß und den kleinen Bereich so einsam wirken ließ, wie Tjarven sich auf einmal fühlte. Dieser Tisch kam ihm gelegen. Zum einen, weil er sich nahe der Tür befand und Tjarven somit seine müden Knochen schonte, indem er sich sofort setzte, und zum anderen würde dieser äußere Platz es ihm erlauben, unbemerkt die jungen Leute zu beobachten. Es war nicht so, dass der alte Mann sich als sentimental beschreiben würde, doch ein wenig Wehmut kam dennoch auf, wenn er daran dachte, einst ebenfalls jung und munter gewesen zu sein. Getümmel und Gemurmel erfüllten die Taverne wie eh und je und ihm wurde bewusst, dass er sehr wohl etwas wie Heimweh empfunden hatte. Immerhin war es zwanzig Jahre her, seit er das letzte Mal einen Fuß in dieses Gasthaus gesetzt hatte.
Es dauerte nicht lang, da trat die nette, ihm unbekannte Wirtin trat näher. »Was möchtest du trinken, Tjarven?«, fragte sie mit einem hübschen Lächeln, während sie sich ihr langes, blondes Haar nach hinten schob.
Der betagte Tjarven runzelte die Stirn und kniff die schwachen Augen zusammen, während er sie eingehend musterte. »Woher …?«, grummelte er und zupfte an seinem grauen Kinnbart entlang.
Blaue und wissbegierige Augen blickten ihn an. Sie kamen ihm vertraut vor. Wie die eines kleinen Mädchens, das er einst gekannt hatte.
»Freya? Bist du es?« Vor seinem geistigen Auge sah er das blonde kleine Mädchen um die Tische herumhüpfen. Stets hatte sie getan, als würde sie bedienen. Tjarven und seine Freunde hatten ihr oft ein kleines Trinkgeld gegeben, was die Tochter des Wirts mit so viel Freude erfüllte, dass sie bis über beide Ohren gestrahlt hatte. Freya hatte sich jeden Tag dort befunden, genau wie er. Täglich hatte sie den Raum mit Freude und Lachen erfüllt. Ein Lachen, das ihm in diesem Moment ins Gedächtnis zurückschoss, als hörte er es genau neben sich.
»Ja, ich bin es«, lächelte sie. »Hast du mich nicht erkannt?«
Bejahend nickte er.
»Du kamst eine sehr lange Zeit nicht mehr hierher, Tjarven Arnorson.« Sie war erwachsen geworden und er alt und faltig. Auf einmal spürte er die zwanzig Jahre noch deutlicher, die zwischen dem heutigen Tag und seines letzten Besuches in der Taverne lagen.
»Du weißt ja … ich … reiste viel umher«, murmelte der alte Mann.
Freya rückte den Stuhl neben ihm zurück und setzte sich ungefragt. Noch immer trug sie das hübsche Lächeln auf den Wangen. Vertraut und ohne Scheu legte sie ihre Hand auf die seine, und sah ihn mit großen, begeisterten Augen an. »Ich habe gehört, du hast die ganze Welt bereist. Wie ist es im Süden? Besuchtest du die Hauptstadt? Hast du den König gesehen? Und die Königin? Warst du am heiligen Vulkan?« Fragen über Fragen strömten aus ihr heraus und ihre Augen blitzten dabei auf. Sie war eine Frau geworden, stellte Tjarven fest, doch die Wissbegierigkeit und die Neugier waren geblieben.
Geduldig, wie eh und je, antwortete er ihr: »Ja und nein. Ich besuchte die Hauptstadt. Den König traf ich niemals. Jedoch besaß ich die große Ehre, einen Vertrauten des Monarchen kennenzulernen.« Er machte eine kurze Pause, seufzte, und sprach weiter: »Ach, Freya. Es tut mir sehr leid, was mit deinem Vater geschah. Bedenke bitte, dass er ein guter Mann war. Er hatte das Herz am rechten Fleck. Sicherlich ist er bereits in Hyverden und speist dort mit den Göttern. Die Allmächtigen werden viel Spaß mit ihm haben. Er hat stets gelacht und war ein geselliger Kerl. Möge er den Göttern ebenso viel Freude bereiten wie uns einst.«
Während er sprach, bekam Freya feuchte Augen, doch sie nickte. »Viele deiner Freunde, mit denen du dich früher hier aufgehalten hast, sind in den letzten Jahren verstorben«, erzählte sie zärtlich und drückte seine Hand ein wenig fester, als könnte sie ihm dadurch Trost für all die Verluste schenken.
»Wenn ich hierherkomme, ist es, als wäre es wie damals …«, lächelte er. »Wie ich sehe, hast du die Bierschenke deines Vaters übernommen?«
»Und ich habe geheiratet«, erwähnte sie und sah zum Tresen hinüber, wo ein großer, kräftiger Kerl stand und die Gäste bediente.
»So, so …«, brummelte der Alte. »Ich hoffe, er behandelt dich anständig.«
Freya lachte so herzlich, wie sie es bereits als Kind getan hatte. »Das tut er. Er ist ein feiner Kerl.« Als sie Tjarven erneut anblickte, schwand das Lächeln und ihre Stimme senkte sich. »Dein Enkel wird bald sechzehn, habe ich mitbekommen. Hast du ihn schon besucht, seit du wieder im Lande bist?«
»Nein.« Trauer stieg in seinem Herzen auf. »Ich bin erst seit heute zurück. Ich wollte fragen, ob eines der Fremdenzimmer frei ist«, murmelte er.
»Natürlich. Für dich immer. Mein Vater liebte dich wie einen Bruder«, erzählte sie. »Aber weshalb gehst du nicht zu deinen Enkeln? Sie leben seit dem Tod deines Sohnes und deiner Schwiegertochter bei deinem anderen Sohn … Wie heißt er gleich? Lass mich überlegen … Nils, stimmt’s?«
»Mhm«, grummelte er vor sich her. Zu seinen beiden Söhnen hatte er nie einen Draht gehabt. Sie besaßen unterschiedliche Mütter, mit denen Tjarven nicht gut auseinanderging. Außerdem waren sie bodenständig, familiär und sesshaft. Was man von ihm selbst nicht behaupten konnte. Schon seit seiner Pilgerreise, die er niemals zu Ende gebracht hatte, träumte er von der großen, weiten Welt. Nils und Yorik konnten ihm nie verzeihen, dass er vor zwanzig Jahren loszog, um die Welt zu bereisen. Er hatte sie zurückgelassen und sie hatten nicht auf seine Briefe geantwortet. Vor einigen Jahren hatte Nils ihm ein einziges Mal geschrieben, nur um ihm mitzuteilen, dass sein ältester Sohn Yorik und dessen Frau verstarben.
Wenn Tjarven sich die Wahrheit eingestand, wusste er nicht einmal, dass Yorik Kinder gehabt hatte. Dies erwähnte Nils in seinem Schreiben nicht, sodass Tjarven es gerade eben erst erfuhr, als Freya davon zu sprechen begann. Sollte ich sie besuchen?, dachte er in sich hinein. Würden sie mich überhaupt sehen wollen? Wer weiß, was sie über mich gehört haben?
Er sah erneut zum Tresen hinüber, von wo aus man ihn anstarrte. Die Burschen, mit den Bierkrügen vor sich, tuschelten. Sprechen die über mich?, fragte er sich, als sie hin und wieder zu ihm sahen und dann weitertuschelten wie alte Waschweiber. Sollen sie doch, entschied er. Doch kaum eine Sekunde später stand einer von ihnen auf, kam zu Tjarven an den äußersten Tisch und setzte sich ungefragt. »Bist du etwa Tjarven, der Sohn von Arnor?«, fragte er.
»Der bin ich.«
»Du kanntest meine Mutter, sie heißt Hanna«, plapperte der Jüngling. Ach ja, Hanna, erinnerte sich Tjarven und hatte die wundervolle, junge Frau vor seinem inneren Auge, die sie damals gewesen war. Unwillkürlich schmunzelte er, als er an sie dachte, und wollte das Wort ergreifen, doch der Bursche plapperte weiter: »Ich bin Mattis. Du bist ein sehr bekannter Mann hier im Dorf. Wusstest du das? Meine Kumpels dort drüben kennen dich auch aus Erzählungen.« Er deutete zum Tresen und winkte die anderen Kerle zu sich. »Er ist es!«, rief er ihnen zu. »Das ist Tjarven Arnorson.«
»Ich bringe dir ein leckeres, kühles Bier«, zwinkerte Freya und stand auf.
»Mein Vater hieß Lenn. Du kanntest ihn. Er hat viel von dir erzählt«, redete Mattis weiter.
»Ach ja, Lenn …«, erinnerte Tjarven sich und musterte Mattis. Doch dieser Junge glich mehr seiner Mutter. Hanna und Tjarven kannten sich früher sehr gut. Wunderschön und klug war Hanna. Ein weiteres Schmunzeln umspielte seine Lippen. Sie hatten damals viel Zeit miteinander verbracht, bevor sie diesen Versager Lenn geheiratet hatte. »Wie geht es deiner Mutter? Lebt Hanna noch?«, fragte er nun neugierig und hoffte auf ein Ja.
»Ja. Mein Vater ist verstorben. Ihr wart Freunde, stimmt’s?« Mit großen Augen sah er den Alten an, als wartete er auf eine Bestätigung.
Widerwillig nickte er. Freunde kann man das nicht nennen. Konkurrenten trifft es besser, dachte Tjarven, doch er behielt es für sich. Er wollte nicht schlecht über einen Toten reden und außerdem lag das über zwanzig Jahre zurück. Doch eins wusste er: Für einen wie Lenn wäre es nach dem körperlichen Sterben sicherlich schwierig, nach Hyverden zu gelangen.
Nun ergriff ein anderer das Wort, der sich ungefragt dazugesellte: »Ich bin Bjarne. Mein Vater war Thore. Er hat mir schon als kleiner Junge erzählt, wie du dich auf den Weg gemacht hast, um die Welt zu sehen.« Beide Burschen sahen ihn aufgeregt und erwartungsvoll an. »Erzähle uns davon. Wo warst du überall? Was hast du gesehen? Warst du am heiligen Vulkan?«, fragte Bjarne Thoreson.
Endlich kam das Bier. Freya stellte es auf dem Tisch ab und sah ebenfalls gespannt auf Tjarven. Es kamen noch ein paar weitere Männer hinzu und sie alle warteten auf eine Geschichte. Viele von ihnen hatten ihren Pilgerweg bereits hinter sich. Doch Tjarven wusste nur zu gut, dass nicht jeder den weiten Weg gemeistert hatte. Dies trug sich zu seiner Zeit schon so zu.
Er nahm einen großen Schluck und genoss das heimatliche Bier, das er seit langem vermisst hatte. »Tut das gut«, stöhnte er und lehnte sich im unbequemen Holzstuhl zurück. Es schmeckte wie Heimat. Nirgends im weiten Süden gab es solch ein gutes Bier. Zur Freude aller wurde er dank des Biers etwas gesprächiger. »Im Süden trinken sie Wein«, gab er von sich und genehmigte sich daraufhin einen weiteren Schluck. »Nichts als Weinreben. Überall. Guten Wein, schlechten Wein. Teuren, billigen. Ich sage euch, Freunde, wenn man so lange im Süden lebte wie ich, dann weiß man erst das Bier aus der Heimat zu schätzen.«
Der gesprächige Mattis unterbrach ihn: »Ich habe im Süden auch einmal Wein getrunken. Es geschah auf meiner Pilgerreise. Allerdings hat er mir nicht geschmeckt.«
»Lass ihn erzählen!«, zischte Freya dazwischen und wandte sich mit großen Augen Tjarven zu: »Berichte uns von der Hauptstadt!«

Nach einigen Stunden und vielen Bierkelchen später kam Tjarven in Fahrt. Er erzählte und erzählte. Und um ihn herum versammelte sich das halbe Dorf; junge Männer und Frauen, deren Eltern und Großeltern er kannte oder gekannt hatte. »… wir Nordländer machen das beste Bier!«, rief er jedes Mal, wenn er einen Schluck trank, und schlug dabei den Krug so heftig auf den Tisch, dass Freya befürchtete, er machte ihn kaputt. »Aber die Hauptstadt, ich sage es euch, meine Freunde, es ist ein Ort, an den ihr niemals reisen müsst. Es ist dreckig und die Menschen sind alle närrisch. Zumindest die, die ich kennenlernte. Natürlich bin ich nicht durch die Tore gekommen und ich weiß nicht, was sie dahinter verstecken, aber ich sage euch, alles vor den Toren ist Abschaum. Die Menschen sind ungewaschen und krank. Sie leben mit den Ratten zusammen und die Buben sind kleiner und schmächtiger als unsere Mädels! Sie sind bleicher als wir Nordmänner und an jeder Ecke wird gehustet und gekränkelt.«
Mit großen Augen sahen ihn die jungen Leute an.
»Arme Bauern, nichts als arme Bauern«, wiederholte er stets, wenn er etwas aus der Hauptstadt erzählte. »Aber Montagna muss man gesehen haben. Das ist eine Stadt!«
Abermals brachte Freya ihm einen Krug, den er auf Anhieb leerte und machte sich erneut auf, um den nächsten zu holen.
»Montagna? Dort waren wir. Also, in der Nähe …«, sprach Mattis, doch Tjarven unterbrach ihn.
»Ja, ja … die Pilgerreise. Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass die meisten unter euch den Vulkan niemals erreicht haben. Dies war schon zu meiner Zeit so. Denkt ihr etwa, jeder eurer Väter hätte ihn gesehen? Die meisten scheitern bei dieser Reise schon in den Hohen Landen.«
Unruhig warfen sich die Burschen Blicke zu und begannen zu flüstern. »Sag nichts, es sind Frauen in der Nähe«, sagte einer.
Sie alle sahen zu Freya.
»Denkst du, ihr Ehemann hat ihr nichts erzählt?«, fragte ein anderer.
Tjarven mischte sich ein: »Es ist kein Geheimnis unter uns Männern. Viele verbünden sich, um den Ruhm mit nach Hause zu bringen und zu behaupten, man hätte den Weg gemeistert. Alles, damit Frauen und Mütter stolz sind.«
Freya kam mit dem neuen Bierkrug näher. »Warum verstummen plötzlich alle?«
Die Burschen sahen sich unsicher an. Tjarven ergriff erneut das Wort: »Ich habe ihnen gerade von meiner Reise nach Montagna erzählt.«
»Oh, wie schön. Wie ist es dort?«
»Es ist die weltschönste Stadt. Die Gebäude bestehen aus Stein und sind verziert …« Er schwelgte in Erinnerungen. »Doch ich sage euch: Am schönsten ist es hier. Zu Hause. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ihr dem Tor zu Hyverden näher seid. Und nirgends seid ihr den Göttern näher.«
Alle schauten ihn an. Jeder der Männer hatte selbst sein Glück versucht. Ob in Gruppen oder allein. Aber einmal im Leben hatte er sich im Süden befunden, denn dies gehörte nun mal zur Tradition; die Reise zum heiligen Vulkan. Egal, ob man es geschafft hatte, oder ob man schon in den Hohen Landen gescheitert war, jeder von ihnen hatte eine Geschichte, die er erzählen konnte. Ob sie nun erfunden war oder nicht. Denn zuzugeben, dass man den Pilgerweg nicht gemeistert hatte, kam nicht infrage. Wenn man nach Hause zurückkam, hatte man am Vulkan den Göttern seine Ehre erwiesen.
»Erzähl uns vom Schattenland. Warst du dort? Hast du es gesehen?«, fragte Freya und alle verstummten.
»Puhh…«, sagte Tjarven und legte die Hände auf den Leib. »Das Schattenland …«, murmelte er und überlegte, was er dazu sagen sollte.
»Und? Warst du dort?«, fragte ein anderer.
»Über das Schattenland sollte man nicht sprechen«, antwortete er besorgt.
»Warum nicht?«
Tjarven seufzte tief. »Ja. Ich war dort und ich habe es keine Woche dort ausgehalten.« Tjarven hatte kein Problem damit, sich etwas einzugestehen oder seine Schande zuzugeben. »Es ist furchterregend.«
Die verstummten jungen Leute fingen an zu murmeln und zu tuscheln.
»Doch …«, sprach er weiter, »wie euch eure Eltern und Großeltern sicherlich erzählt haben, war es mein Wunsch, einmal auf allen sechs Kontinenten gewesen zu sein. Nun, da gehört leider das Schattenland eben dazu.«
»Als ich im Süden herumreiste, hatte man mir gesagt, das Schattenland gäbe es überhaupt nicht!«, warf ein Knabe ein.
Tjarven winkte ihn zu sich. »Wie alt bist du, mein Junge?«
»Siebzehn«, antwortete er.
»Siebzehn … Dann bist du wohl gerade erst von deiner Pilgerreise zurückgekommen, stimmt’s?«, brummte der Alte.
Eifrig nickte der Junge.
»Und sag mir, hast du es geschafft?« Eindringlich sah Tjarven ihn an.
Unsicherheit überkam den kleinen Mann und er sah zu seinen Freunden, dann zu seinem Vater, der danebenstand.
»Natürlich hat er es geschafft!«, rief Freya überzeugt und die wenigen, anwesenden Frauen stimmten ihr zu.
»Und?« Tjarven sah noch immer den Burschen an. »Warst du am Vulkan?«
»J… Ja!«, stotterte er und starrte sogleich auf seine Füße.
»So, so!« Tjarven sah in die Runde. »Und jeder von euch ebenfalls!«
Einige der jungen Männer erröteten leicht.
»Ich war nicht dabei. Ich kann es euch nur glauben«, fuhr Tjarven fort. »Und so ist es mit dem Schattenland. Ich befand mich dort und sah schlimme Dinge. Doch wie sollte ich es beweisen?«
»Wir glauben dir, Tjarven«, rief Freya überzeugt. »Aber was für schlimme Dinge hast du gesehen?« Ihre Stimme wurde leiser, so als ob es niemand hören dürfte. »Geister?«
»Dinge eben«, brummte er.
»Stimmt es, was man sich erzählt? Gibt es dort keine Sonne?«, flüsterte sie nun, so als ob die Götter ihre Neugier nicht erfahren dürften.
»Es gibt schon eine Sonne, doch sie ist dunkel – Schwarz wie die Nacht. Und über das ganze Land zieht sich eine Eisschicht.«
Verwundert stöhnten einige auf. Neugierig sahen sie ihn an und wurden schnell wieder leise. Erwartungsvoll lagen alle Blicke auf Tjarven, der weitererzählen sollte.
»Es reicht, einen Fuß auf den düsteren Kontinent zu setzen, und man spürt das Böse. Eine schaudernde Aura liegt über diesem Land und lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.« Seine Stimme verdunkelte sich.
»Hast du dort Menschen gesehen?«, fragte Mattis.
»Ein paar. Jedoch ist der Kapitän, der mich dorthin brachte, sofort zurück auf sein Schiff und hat sich dort verkrochen.«
»Weshalb?«
»Als wir das Land betraten, flogen ungewöhnliche Wesen über die dunklen Eisberge«, flüsterte er.
»Was für Wesen?«, fragte Freya beängstigt und klammerte sich an ihren Mann, der ebenfalls bei den jungen Burschen stand. Die gesamten Besucher des Lokals umzingelten Tjarven. Niemand wollte sich seine Geschichten entgehen lassen.
»Das weiß ich nicht. Ich konnte sie kaum erkennen, immerhin ist es dort dunkel. Man hört nur ihre Flügel schwingen, sobald sie näher kommen.«
»Wie können dort dann Menschen leben?«, fragte nun Freyas Gatte ungläubig. »Und wie willst du sie gesehen haben, wenn es dunkel war?«
»Hmm …«, grübelte Tjarven und zwinkerte Freya zu. »Einen klugen Kerl hast du geehelicht, mein Kind … Ich sage es euch. Die Sonne ist verdunkelt, doch am Rand entlang, kann man wenige Lichtstrahlen erkennen. Und die Sterne sieht man auch. Ich habe niemals solch einen schönen Nachthimmel gesehen wie dort unten.«
»Und diese Wesen, die du erwähnt hast, die sind gefährlich? Sowas wie … Drachen?«, fragte Mattis neugierig.
Tjarven schüttelte eifrig den Kopf. »Keine Drachen. Drachen wären harmlos gegenüber dem, was dort unten lebt. Es ist viel furchteinflößender und grausamer als alles, was ihr euch vorstellen könnt.«
Freya drückte sich noch enger an ihren Liebsten. »Und warum leben dort Menschen? Werden sie nicht von den Monstern gefressen?«
»Nein, mein Kind. Sie haben diese Monster erschaffen!«
Der siebzehnjährige Junge drückte sich hinter seinen Vater. Dieser schimpfte und flüsterte: »Stell dich nicht so an, Sohn! Du bist doch kein Weichling.«
Tjarven sprach weiter: »Die wenigen Menschen, die ich dort antraf, arbeiteten am Hafen und ich habe ihnen dieselbe Frage gestellt wie du, Freya: Weshalb lebt ihr an solch einem Ort? Und einer der Männer antwortete mir: Weil wir es wollen.«
Die jungen Leute sahen sich fragend an und Tjarven winkte nochmal den Kleinsten zu sich. »Du hast recht, die Menschen in und um die Hauptstadt herum glauben nicht an das Schattenland. Es war sehr schwer für mich, eine Fähre dorthin zu bekommen, und es hat mich einiges gekostet. Über zahlreiche Vermittler bekam ich endlich den Kontakt zu einem Seefahrer, der diese Route manchmal übernimmt. Allerdings macht er es nicht gerne, deshalb ist es teuer. Das Schattenland hat nur einen einzigen Hafen und er wird nur von wenigen Seeleuten angesteuert. Nur von den Schwarzen Inseln aus erreicht man es. Der Seefahrer erzählte mir, dass jeder andere Seeweg so gefährlich sei, dass kein Schiff jemals zurückkam.«
Ruhig und starr lauschten sie seinen Geschichten.
»Als das Schiff anlegte, überkam mich ein unheimliches Bauchgefühl. Ich spürte, dass ich an diesem Ort womöglich mein Leben lassen müsse. Doch nach sechs Tagen, die ich ausschließlich am Hafen und in Schiffsnähe verbrachte, drängte mich der Kapitän zur Rückkehr. Er behauptete, wenn ich nicht mitkäme, würde er allein zurücksegeln. Ich suchte nach einem Einwohner, der mir mehr über das mysteriöse Land erzählen könnte. Die wenigen Hafenarbeiter sprachen kaum ein Wort mit mir und wenn doch, dann warnten sie mich. Ich solle zurück aufs Schiff, sagten sie. Es sei das Beste für mich, nicht zu wissen, was dort unten vor sich gehe. Irgendwann sah ich keinen Grund dafür, dortzubleiben. Meine Fragen wurden ebenso wenig beantwortet wie die euren. Als ich zurück aufs Schiff ging, um abzureisen, traf ich endlich auf einen … hmm … Ich bin nicht sicher, wie ich ihn, oder sie, benennen sollte. Er sah nicht aus wie ein Mensch. Doch auch nicht wie ein Tier. Wie …«, Tjarven grübelte, ehe er weiteren Schluck Bier trank. »Es war kein Mensch!«, sagte er nun überzeugt.
»Was dann?«, fragte der Junge, sichtlich verängstigt.
»Das kann ich nicht genau deuten. Aber dieses Wesen sprach nur einen Satz: Kehr zurück und sag deinen Göttern, dass der Krieg nicht vorbei ist!«
Die jungen Menschen um ihn herum stöhnten auf. Jeder kannte die Geschichten über die Götterkriege. »Solch dumme Albernehiten! Wer glaubt dem alten Kreis diesen Unsinn?«, rief ein Mann wütend. »Der einstige Krieg der Götter ist schon lange vorbei und die Tore sind für immer verschlossen.«
Freyas Ehemann stimmte ihm zu und belächelte Tjarven. »Leider glaube ich diesen Unsinn auch nicht.« Er ging zurück hinter die Theke, wo die Hälfte der Männer ihm hin folgte und sich von dem verrückten alten Mann abwendete.
»War es ein Dämon?«, flüsterte Freya leise, sodass ihr Mann sie nicht hören konnte.
»Nein. Der Kapitän, der auf dem Schiff auf mich wartete, und mich beobachtete, hatte niemanden gesehen. Er behauptete, ich hätte halluziniert.«
Die Frauen schlugen erschrocken die Hände vors Gesicht und klammerten sich an ihre Männer. Ungläubig schüttelten sie nach und nach den Kopf. Tjarven erzählte weiter: »Als wir nun auf dem Rückweg waren, berichtete der Kapitän, dass ihm eines Tages ein Hafenarbeiter von einer Stadt erzählt habe, die so weit südlich des Hafens liege, dass niemals ein Fremder dorthin gelangen könnte, ohne dass die fliegenden Monster oder die Kälte ihn umbringen würden. Doch es gebe dort viele Menschen, die grausame Rituale vollziehen und alles Böse, das in Nedendor haust, hinaufbeschwören würden.«
»Und wie sind diese Menschen in die Stadt gelangt?«, fragte Mattis, doch sein Kumpel Bjarne unterbrach ihn: »Aber Nedendor wurde von den Göttern besiegt und die Tore dorthin zerstört. Niemals könnte etwas Bösartiges von dort in unsere Welt gelangen.«
»So erzählen es jedenfalls die Göttergeschichten …«, murmelte Tjarven und trank seinen letzten Schluck für diesen Abend.



Kapitel 2 – Loui

Mit erhobenem Haupt, dem eines Königs gleich, saß Loui auf dem Thron, umringt von denen, die ihn führten und durch diese Zeremonie begleiteten. Der Thronsaal wurde mit den Bannern seines Hauses geschmückt und flackernde Kerzen erhellten die hohen Räume und warfen Schatten an die Wände. Schatten der Adler, die sich im ganzen Raum verteilten und groß und schwarz und still über den Steinmauern schwebten.
Die Adler auf den Bannern dagegen waren reale Bilder. Sie hielten Schwerter in ihren Krallen und der Hintergrund verkörperte das helle Grün des Hauses Dubois, verziert in Weiß und Gold. Adlerstatuen standen im Thronsaal umher, für jeden der verstorbenen Könige eine. Die Neueste, ein Gebirgsadler aus Marmor, hob seine Flügel breit gefächert und blickte mit stechenden Augen aus Smaragden in den Raum. Am Sockel unter der Figur stand in goldener Schrift: König Alain der Zweite.
Loui hörte die Menschenmenge flüstern und murmeln, während sie zu ihm aufblickte. Kindskönig und der kleine Prinz, schnappte er auf. Manche lachten hinter vorgehaltener Hand und die Worte naiv oder unfähig, erklangen aus einigen Ecken.
Was könnten sie auch anderes von ihm halten? Er zählte gerade einmal vierzehn Jahre, und in den Augen der meisten wirkte er wie der kleine Junge, der einst um seines Vaters Thron herumgehuscht war und mit einem Holzschwert gegen die versteinerten Adler gekämpft hatte. Und nun saß er dort, auf dem Platz, wo vor Kurzem noch sein Vater Alain gesessen und das Volk regiert hatte.
Loui bemühte sich, erhaben und königlich zu wirken, und den Anschuldigungen der feinen Gesellschaft nicht gerecht zu werden. Gerade und ohne Mimik saß er tagsüber aufrecht und mit erhobenem Kopf auf dem Thron, doch nachts, wenn er allein im Bett lag, weinte er sich in den Schlaf wie der kleine Junge, der er war.
Der Tag der Krönung war gekommen und er bemühte sich mehr denn je, die Nervosität zu unterdrücken. Er stellte sich vor, seine Angst und die Furcht darüber, ein Land ganz allein zu regieren, in eine Kiste zu packen und sie in die reißende Strömung der Tjerne zu werfen.
Über den Scharen an Adligen, die am Hofe lebten oder wegen seiner Krönung angereist waren, erhob sich eine Empore, auf der nur ausgewählte Gäste und Familienmitglieder stehen durften. Es war eine Art Balkon, jedoch befand sie sich im Inneren. Goldene Stäbe dienten als Geländer, vor denen Desiree und er früher gestanden und seinen Eltern beim Regieren zugeschaut hatten. Am heutigen Tag jedoch spielte die königliche Hofkapelle von diesem Balkon herab. Trommelwirbel und Trompeten erklangen jedes Mal, wenn einer der wichtigen Adelsmänner durch das Tor zum Thronsaal hineingeleitet wurde. Einer der Hofgardisten führte den Gast zur rechten Seite, ein anderer zur linken durch die große Flügeltür, die in weißer Farbe angestrichen und mit goldenen Mustern verziert war. Es handelte sich um perfekt ausgebildete Männer, gekleidet in den Farben grün und weiß, mit spitzen Hüten, auf denen eine grüne Pfauenfeder hinauf ragte, welche sie als Hofgardisten erkenntlich machten. Beim kleinsten Anzeichen auf ein Attentat würden diese Männer sofort ihr eigenes Leben für den König lassen, wusste Loui nur zu gut. Wer das Privileg besaß, zur Garde zu gehören, war sich bewusst, dass er sein ganzes Leben der Königsfamilie verschreiben musste. Niemals durfte er eine Ehe eingehen oder Kinder zeugen. Diese mutigen Krieger waren nicht nur irgendwelche Ritter, die aufgrund ihres Titels ihren Rang bekamen, nein, um zu den Grünhüten, wie sie oft genannt wurden, zu gehören, mussten sie eine schwere Prüfung bestehen. Diese bestand nicht nur aus der Kunst, den König zu verteidigen, sondern beinhaltete auch eine geheime Musterung, welche die Loyalität und Königstreue testete. Wer dieses Verfahren zwar gut abschloss, doch nicht als perfekt galt, durfte stattdessen nur zur Stadtwache, was allerdings ebenfalls als ein hoch angesehener Rang galt. Jeder der Hofgarde sowie der Stadtwache trug den Titel Ritter oder, wenn er ausgezeichnete Arbeit verrichtete, sogar den Ritterhelden, der nur selten vergeben wurde und nur vom König persönlich verliehen wurde. Loui erinnerte sich nur an einen Einzigen, den sein Vater zum Ritterhelden gesalbt hatte und es handelte sich nicht um einen Mann, sondern um eine Frau, was damals das erste Mal vorgekommen war und für viel Empörung im Reich gesorgt hatte.
»Ein Geschenk der Nordländer, Majestät«, rief der Großgrundbesitzer Alois Hadrian, der als Nächstes hineingeleitet wurde, und riss Loui aus seinen Erinnerungen. Loui sah ihn zum ersten Mal. Er kannte bisher nur dessen Bruder, Graf Richard, der die Interessen des Nordens am Königshofe für Fürst Alois vertrat. Angemessen verneigte Hadrian sich. Böse Zungen behaupteten, er sei ein Schlitzohr, ein Bösewicht und ein Hochstapler. Diesen Kerl durchschaute Loui sofort. Fürst Alois drehte sich herum und präsentierte seine Großzügigkeit, als ginge es nicht um Loui, sondern um ihn selbst. Ihn schien die Meinung der Adligen mehr zu interessieren als die des Königs.
»Ein sehr schönes Ross, Durchlaucht«, dankte der Kindskönig dennoch freundlich. Der kleine König wusste sich zu benehmen. Was soll ich denn mit einem weiteren Pferd? Ich habe mehr als genug und reite so gut wie nie aus, dachte Loui, doch sprach es nicht aus. Er war bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Hüte, Stiefel, Hunde, Pferde, was ich nicht alles bekommen habe. Doch das alles besitze ich im Überfluss, ärgerte er sich. Fürst Hadrian schien stolz über dieses edle Geblüt zu sein, das er des Königs wegen extra in den Thronsaal hatte traben lassen.
Der Norden des Landes wurde seit ein paar Jahrzehnten von der Familie Hadrian verwaltet. Sie taten stets so, als wären sie reich und mächtig, doch in Wirklichkeit waren sie nicht mehr als Viehhändler und Bauern, hatte Louis Vater einst behauptet, als er wieder einmal zu tief ins Glas geschaut hatte. Er hatte es nicht im Geheimen gesagt, sondern lautstark auf einer Ratssitzung verkündet, woraufhin Fürst Alois sofort über diesen unangebrachten Spruch des Königs informiert wurde. Danach hatte es eine unbedeutende Auseinandersetzung zwischen der Hauptstadt und dem Norden gegeben. Und der Fürst reiste am heutigen Tage das erste Mal seit vielen Jahren wieder in die Hauptstadt, um sich beim naiven Kindskönig von seiner besten Seite zu zeigen.
»Wir im Norden, haben die edelsten Rösser. Sie sind robust und klug. Sie genießen eine exzellente Ausbildung …« Alois gab sich alle Mühe, dieses Geschenk wertvoller wirken zu lassen, als es der Wahrheit entsprach.
Doch ein anderer Mann fiel ihm respektlos ins Wort: »Eure Majestät, darf ich nun mein Geschenk vortragen?«
Loui nickte und winkte mit seiner rechten Hand den Wachmännern zu, die Fürst Alois Hadrian nach draußen begleiteten. Der ungeduldige Gast ließ ein Langschwert hereinbringen und die Trommelwirbel erklangen erneut. Loui stand sofort auf, um es näher zu betrachten, doch als ihn die anderen anstarrten, setzte er sich und spielte sein Interesse herab. Die Waffe war über einen Meter lang und der Griff bestand aus weichem Hirschleder.
»Es wurde von den besten Waffenschmieden Eures Reiches geschmiedet, weit im Osten. Dieser Schmied stellt auch die Schwerter Eurer Garde her und die legendären Waffen der Gladiatoren der Padakis«, versicherte der Fürst stolz und trat einen Schritt näher, während er das Geschenk auf einem Seidentuch dem König präsentierte.
Auf der Stelle wurde er von einem Wachmann zurückgedrängt. »Nicht zu nah an den König!«, befahl er, doch Louis Interesse wurde geweckt: »Lasst ihn näher treten.«
»Aber mein König, er hat eine Waffe …«
»Ich möchte es sehen. Wer seid Ihr?«
»Eure Majestät, ich bin der Fürst des Südwestens. Benedikt Rosso. Wir hatten bereits das Vergnügen, jedoch wart Ihr damals noch sehr jung.« Er verneigte sich vorsichtig und es schien, als sei er enttäuscht darüber, dass der König ihn nicht erkannt hatte.
Loui erinnerte sich daran, den Fürsten und seine Frau schon einmal getroffen zu haben, doch damals war er wirklich noch sehr klein gewesen. »Verzeihung«, murmelte Loui und sah sich das Schwert genauer an.
»Ich begab mich viel auf Reisen und habe Eurem Vater treu gedient«, erzählte Benedikt Rosso in der Hoffnung, Louis Interesse auf sich zu lenken. Doch das wertvolle, scharfe und glänzende Schwert schien für einen jungen Mann weitaus wichtiger als irgendein Adelsmann. »Ich jagte mit Eurem Vater, dem König, und abends saßen wir oft zusammen, um Wein zu kosten.«
Von irgendwoher, Loui erkannte nicht, woher genau, hörte er ein Flüstern: »Trinken … das war des Königs Lieblingsbeschäftigung.«
Der junge König wurde wütend und zugleich noch unsicherer. Einerseits würde er am liebsten in den Raum hineinrufen: Schämt Euch, so über einen Toten zu reden! Doch andererseits wusste er, dass die Adligen, die sich heute hier versammelt hatten, keinen jähzornigen und aufbrausenden König unterstützen würden.
Unbeholfen sah er die vielen Gesichter an. Er wünschte sich zurück in sein Bett, wo er unter der Decke die Tränen nicht verstecken musste und wo er an seine Eltern denken konnte, die nicht mehr bei ihm waren.
Der Tod war in diesem Palast allgegenwärtig. Manchmal kam es Loui vor, als wäre er ein unbeliebter Dauergast, der es sich zur Aufgabe machte, ihm das Herz zu brechen. Erst verstarb sein jüngster Onkel, der Vater seines Cousins Pierre. Vor ein paar Monaten schied Louis Mutter dahin, nachdem sie aus einem Kelch getrunken hatte, der eigentlich ihrem Gemahl galt. Danach hatte dieser sich verändert. Man sagte ihm nach, er sei verrückt geworden. Er hätte sich eingebildet, jemand wollte ihn vergiften und nur durch ein Versehen, trank seine Frau den Wein, der eigentlich ihm galt. Er hatte sich selbst mit Gift das Leben genommen, nachdem er diese Wahnvorstellungen nicht mehr ertragen konnte. So hatte man es Loui erzählt, als er seinen Vater tot im Bett aufgefunden hatte.
Für einen kurzen Moment erklangen weitere Trommelwirbel, die Loui von den tragischen Gedanken ablenkten. Onkel Sebastien marschierte durch das Tor – selbstbewusst wie immer. Als die Garde auch ihn hinein geleiten wollte, winkte er mit nur einer Handbewegung ab. Auch die Trommeln verstummten mit dieser Geste. Er mochte keine pompösen Auftritte, das wusste Loui nur zu gut. Onkel Sebastien war ein bodenständiger und natürlicher Geselle, der keinen Wirbel um sich herum brauchte.
Loui atmete erleichtert auf. Endlich. Es fühlte sich an wie ein Stein, der von seinem Herzen hinabglitt. Er beobachtete, wie sein Onkel die Treppe zum Thron hinaufsprang. Er nahm gleich zwei Stufen auf einmal, stellte sich vor den König, verneigte sich kurz und zwinkerte dem Kindskönig zu, bis er sich schließlich in aufrechter Position rechts neben den Thron stellte. Loui liebte ihn. Er war alles, was ihm von seinem Vater blieb. Der Bruder des Königs Alain, der die gleichen smaragdgrünen Augen besaß wie er. Der allerbeste Onkel auf der Welt, dachte er stets, wenn er Zeit mit ihm verbringen durfte.
»Wo befandet Ihr Euch, Onkel Sebastien?«, fragte Loui und versuchte, gefestigt zu wirken. Seine Finger krallten sich in die Lehne des Thrones.
»Ich hatte Angelegenheiten, mein König.«
»Ich brauchte Euch. Ihr solltet an meiner Seite bleiben«, sagte Loui in befehlerischer Tonlage, damit es nicht wie ein Hilfeschrei wirkte. Doch das war es: ein Hilfeschrei. Stundenlang hatte er allein dort auf dem Thron gesessen, hart und unbequem, in diesem Saal, der laut und doch so leise erschien, groß und doch viel zu beengend.
»Verzeihung, König Loui. Ich werde von nun an an Eurer Seite bleiben, wenn Ihr es wünscht.«
Loui nickte. Das tat er stets, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. Bitte lass mich nie wieder allein, wollte er schreien, doch er erinnerte sich, dass er kein kleines Kind mehr sein durfte.
Sein Onkel schmunzelte und Loui wusste genau, dass er ihn durchschaut hatte.
»Und nun, das Geschenk des Sultans aus der Steinwüste, mein König«, ertönte die Stimme des Kapellenmeisters, der die Gäste ankündigte. Die Wachen führten Fürst Benedikt zurück. »Es hat mich gefreut, Eure Majestät«, rief er dem König zu, während er zurückgedrängt wurde.
Ein dunkelhäutiger Mann, mittelalt und mit einem Vollbart, verneigte sich vor dem Thron und brachte einen großen Weidenkorb. Lange weiße Seidenkleider hoben seine dunkle Haut hervor und unter dem Gewand konnte man nackte, behaarte Zehen erkennen, die aus Ledersandalen herausragten. »Der Sultan bedauert es zutiefst, nicht selbst anwesend zu sein«, sprach der Gesandte und Loui hörte neben sich das verächtliche Stöhnen, das sein Onkel ausstieß.
Stolz und mit glänzenden Augen präsentierte der Gesandte des Sultans den schweren Korb, den zwei weitere Männer in hellen Seidengewändern hineintrugen.
»Was ist das?«, fragte Loui, blickte auf den Weidenkorb und erwartete darin das Gleiche wie schon den ganzen Tag: Seidentücher, Samthandschuhe oder Lederstiefel. Das Schwert war bisher das mit Abstand Bedeutsamste gewesen.
»Ein Löwe, Euer Gnaden«, erwiderte der Abgesandte des Sultans und die Menge begann erneut zu murmeln.
Fasziniert und zeitgleich erschrocken starrte die Gesellschaft auf den Korb, der vor dem Thron stand. In der Tat, etwas darin schien sich zu bewegen. Der ganze Korb wackelte. Die Frauen stießen einen Schrei aus und die Männer griffen mit den Händen an ihre Schwerter. Doch das Interesse wirkte größer als die Furcht und jeder wollte das Tier sehen. Neugierig drängten die Zuschauer näher nach vorn.
Auch Louis Interesse wurde geweckt und es fiel ihm schwer, still auf dem Thron sitzen zu bleiben. Kurz erhob er sich und reckte den Kopf nach vorn, ehe ihm einfiel, dass er keinen Eifer an den Tag legen durfte.
»Öffnet den Korb, ich will das wilde Tier sehen«, sprach schließlich Sebastien, als er merkte, dass sein Neffe unbeholfen reagierte.
»Wie Ihr wünscht.« Der Abgesandte öffnete den Deckel des Korbes, und ein hellbraunes Köpfen schaute heraus. Zwei große goldene Augen blickten Loui an, ehe das Tierbaby mit den Ohren zuckte und in einem Satz aus dem Korb sprang. Unbeholfen tapste es auf dem Marmorboden umher, als hätte es sich viel zu lange nicht bewegen dürfen.
»Wie niedlich«, gaben nun die Fräuleins von sich, während die Männer lachten.
Onkel Sebastien errötete vor Zorn. »Ist das eine Beleidigung an den König? Was soll er mit einem Löwenwelpen? Euer Sultan hat keinen Respekt. Mein Neffe ist der König! Er ist des Adlers Sohn und durch seine Adern fließt grünes Blut. Denkt daran, wenn König Loui erwachsen ist und …« Er presste die Zähne aufeinander und nahm sich zusammen. »Nehmt es hinfort und richtet dem Sultan aus, er soll das nächste Mal selbst erscheinen und dem König persönlich gratulieren. Und dann erwartet der König ein angemessenes Geschenk und …« Loui unterbrach ihn: »Nein! Ich werde es behalten.« Seine kindliche Freude über das kleine Tierwesen überschlug sich. »Und nun hinfort mit Euch!«, befehligte der kleine Monarch. Und der Gesandte tat, wie ihm geheißen.



Kapitel 3 – Kiran

Heute war der Tag. Der eine. Der wichtigste in seinem bisherigen Leben. Sein Tag. Vor ein paar Monaten hatte Kiran den sechzehnten Geburtstag gefeiert, und der Tradition nach musste er sich auf der langen Pilgerreise zum heiligen Vulkan beweisen. Danach würde er ein Mann sein und von der Gesellschaft auch als solcher anerkannt werden. Vorbei war es mit dem Dasein als Junge, und darauf wartete er bereits seit einigen Jahren. Sobald er als richtiger Mann zurückkäme, wollte er sich eine hübsche Frau suchen, heiraten, einen Beruf erlernen und mit eigenen Händen ein kleines Haus bauen. Wahrscheinlich würde er, genau wie sein Vater, ein Holzfäller werden oder ein Jäger wie sein Onkel Nils. Diese Zukunftspläne schlossen auch Liv mit ein, denn er wusste, dass er seine Schwester zu sich holen und für sie sorgen würde.
So saß Kiran ungeduldig vor dem Haus auf dem Pony und neben ihm stand das Pferd bereits gesattelt, auf dem Nils ihn zur Zeremonie begleiten würde. Wann kommt er denn endlich? Wir sind schon viel zu spät dran, ärgerte er sich.
Liv und er hatten vor einigen Jahren ihre Eltern verloren. Sein Vater hatte als Holzfäller gearbeitet, doch die Erträge reichten kaum aus, um die Familie zu ernähren, weshalb sein jüngster Bruder Benji sterben musste. Seine Mutter hatte behauptet, Benji sei unterernährt gewesen und hätte deshalb das Fieber nicht überlebt. Deswegen baute Kirans Vater Yorik ein kleines Boot, um mit der Fischerei eine Kleinigkeit dazuzuverdienen. Eines Tages waren seine Eltern damit hinaus aufs Meer gefahren – und niemals zurückgekehrt.
Seitdem lebte er mit Liv bei seinem Onkel Nils und dessen Frau Emma. Emma war noch recht jung, viel jünger als Nils, und sie wollte eigene Kinder. Kiran bemerkte, dass er ihr ein Dorn im Auge war, auch wenn Liv es bisher nicht wahrnahm. Sie hatte es ja auch erst auf dreizehn Jahre gebracht und vergötterte die junge Ersatzmutter.
Aber heute ging es um Kiran. Aufgeregt hatte er am Morgen seine besten Sachen an gezogen; eine Lederhose und einen Pelzmantel, den er von Nils bekommen hatte. Ein neuer Mantel stellte etwas ganz Besonderes dar, es war beinahe so gut wie neue Schuhe. Doch die alten Treter, die ihm zur Verfügung standen, drückten am rechten, großen Zeh und am linken befand sich ein kleines Loch. Allerdings störte es ihn nicht. Vor allem nicht heute. Heute fühlte er sich groß und wichtig. Endlich würde er ein Mann werden und alle würden es sehen.
Noch immer wartete er auf Nils und fragte sich, ob er wohl an seinem Ehrentag zu spät erscheinen würde. Ungeduldig klopften seine Schuhe gegen den Rumpf des armen Ponys. Er bemühte sich, die Füße still zu halten, doch es war schwer, wenn man bedachte, dass Kiran vor Aufregung beinahe platzte. »Verzeih mir«, murmelte er und streichelte mit den Händen durch die Mähne des Tieres, das sie erst seit kurzem ihr Eigen nannten. Die Endersons, die einen Hof unweit von Nils´ Haus besaßen, verkauften das alte Pony, nachdem ihr ältester Sohn nicht mehr von der letzten Pilgerreise zurückkam. Eduard, so hieß er, erinnerte Kiran sich. Er kannte diesen Burschen, Kiran kannte jeden im Dorf! Eduard zählte gerade einmal ein Jahr mehr als er, und Kiran wusste, warum sie das Pony so günstig an Nils verkauft hatten. Eduard war der älteste Sohn der Endersons gewesen. Außer ihn hatten sie zwei kleine Mädchen, die nicht mehr als vier Jahre zählten. Eduards Vater hatte eine Lähmung, seit er beim Arbeiten auf der Farm einem Unfall erlag. Seitdem hatte der Junge ununterbrochen gearbeitet, um seine Eltern zu unterstützen. Aber als die anderen zurückkamen und Eduard nicht, blieb der Mutter und dem kranken Vater nichts übrig, als ihr Vieh zu verkaufen.
Das Unglück einiger ist das Glück anderer, hatte Emma gelächelt, als Nils das Pony weit unter Wert ergattert hatte. Doch Kiran kannte seinen Onkel. Nils hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte den Endersons gegenüber mehrfach betont, wie sehr ihm der Verlust ihres Sohnes leidtat. Ab und an ging er heimlich zu ihnen und half aus, wenn sie Hilfe benötigten. Geheim deshalb, weil Emma sich sonst nur aufregen würde. Und niemand wollte das. Emma konnte eine Kratzbürste sein!
Wir haben selbst nichts!, hörte Kiran Emma in seinen Gedanken, so als würde sie es jetzt gerade sagen. Sie erwähnte dies immer, wenn Nils jemandem helfen wollte, und dann sagte sie stets: Ich habe schon eingewilligt, deinen Neffen und deine Nichte bei uns aufzunehmen! Immer und immer wieder warf sie Nils das vor. Egal, worum es ging.
Endlich erschien Nils. Während er aus der Tür herauskam, knöpfte er seinen Mantel zu und zog die feinen Hirschlederhandschuhe an, die Emma ihm genäht hatte. Als er Kirans Blicke auf die schönen Handschuhe bemerkte, lächelte er. »Eines Tages vermache ich sie dir, wenn du als Mann zurückkommst«, versprach er und warf sich in den Sattel.
Gerade als sie loswollten, kam Emma aus dem Haus gerannt. Sie lief bis zum kleinen Zaun und rief Nils hinterher: »Komm zurück. Du kannst nicht mit!«
Warum heute? Einmal geht es um mich, dachte Kiran und hoffte, dass Nils dennoch mitkommen würde.
Nils seufzte und sprang vom Ross, langsam ging er die paar Schritte zum Zaun zurück. Die beiden tuschelten miteinander und Kiran wartete ungeduldig in der Kälte.
»Was ist denn, Onkel?«, rief er aufgeregt, als Nils zu ihm zurückkam und sein Pferd zu sich zog.
»Ich kann nicht mit.«
»Warum? Es ist doch mein Fest! Ich reise heute ab. In den Süden, um ein Mann zu werden.«
»Deiner Tante geht es nicht gut«, antwortete Nils besorgt und sah zu Emma hinüber, die nun in der Tür stand und ihm wütende Blicke zuwarf, während sie die Hände an ihren Armen rieb.
Kiran wusste sofort, was vor sich ging. Seit einigen Monaten fiel ihm auf, dass Emma ein Kind erwarten musste. Und nachts hatte er die beiden oft deswegen streiten gehört. Wie sollen wir drei Kinder ernähren? Zwei sind schon zu viel. Wir können kaum unsere Tiere füttern. Da ist das Pferd und nun auch noch das Pony. Die Kinder müssen weg!, hatte er Emma schimpfen hören. Sofort dachte Kiran an Liv, als er auf seinem Pony saß und nicht wusste, ob Nils es sich anders überlegen würde. Was könnte geschehen, wenn er Hunderte von Meilen weit weg wäre und Emma sie verjagte?
»Du musst allein zu dieser Zeremonie, Junge«, sagte Nils liebevoll und legte seine Hand auf Kirans Pony. »Du schaffst das, du bist stark. Ich glaube an dich.«
»Und wer bringt das Tier zurück? Es ist ein weiter Weg …«
»Frage jemanden der anderen Eltern und bitte sie, es mir zu bringen.«
Das Pony war Kirans kleinste Sorge, doch er gab nicht auf. »Onkel, bitte, du musst dabei sein, wenn ich ein Mann werde. Wer verabschiedet mich?«
»Du schaffst das, Kiran«, versicherte Nils liebevoll. »Du bist stark, das weiß ich.«
Nun sprach Kiran doch seine eigentliche Sorge aus: »Und Liv?«
»Was soll mit ihr sein? Die Zeremonie ist für Jungen. Liv bleibt bei uns.«
Kiran bekam ein ungutes Gefühl. Ein erdrückender Gedanke schoss ihm in den Sinn, doch er nickte und trabte in Richtung des Nachbardorfes, in dem die Feierlichkeiten sicherlich bereits angefangen hatten.
Auf halbem Wege hielt er inne.
Verdammt!
Ohne einen weiteren Gedanken machte er kehrt. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, seine Schwester allein dort zu lassen. Nils würde sie lieben und sie immer beschützen, das wusste er. Doch sein Onkel hielt sich nur selten zu Hause auf. Manchmal war er tagelang unterwegs. Was würde dann aus Liv werden? Und wie würde es erst sein, wenn das Baby da wäre?
Zurück zu Hause band er vor der Hütte sein Pony an und schlich sich ins Haus. Die Dielen knarrten, doch Nils und Emma befanden sich im Schlafzimmer und stritten so laut, dass sie Kirans Schritte nicht hörten. Er schlich zu seiner kleinen Schwester, die in einer Ecke saß und weinte.
»Was ist mit Emma?«, wimmerte sie, als sie ihren Bruder sah. »Warum schreit sie Onkel an?«
»Nichts«, antwortete Kiran. Kurz sah er sich um, schließlich begann er, Livs Sachen zusammen zu packen. Eifrig drückte er sie in seinen Stoffbeutel, in dem auch sein Proviant lag. Ein paar Kleider und eine Mütze waren alles, was er auf die Schnelle fand. »Zieh deine Schuhe an!«, forderte er sie auf.
»Was tust du da?«, fragte sie erschrocken.
»Du kommst mit mir!«
»Wohin?«
»In den Süden«, flüsterte er. Schritte ertönten aus dem Nebenraum und Kiran legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pssst.«
»In den Süden? Nein. Ich möchte hierbleiben«, flüsterte Liv.
»Das geht nicht. Ich lasse dich nicht allein«, wurde Kiran strenger. Ohne weitere Diskussionen nahm er sie an der Hand und zog sie heimlich aus dem Haus.
»Aber …«, rief sie und er hielt ihr den Mund zu. »Leise! Du kommst mit. Ich befehle es dir. Du bist meine kleine Schwester und musst tun, was ich sage.« Er half ihr auf das Tier und ritt mit ihr in Windeseile davon. Inzwischen regnete es stark und die Tropfen wurden im kalten Wind zum Schneeregen.
»Wo reiten wir hin?«, fragte sie zitternd. Der Wind wehte eiskalt, und ihre Lippen wurden schon blau. Sie klammerte sich an ihn, denn im Gegensatz zu Kiran war sie noch nicht so oft geritten. Während Onkel Nils ihn stets mit zur Jagd nahm, um ihm alles beizubringen, zwang Emma Liv zu Hause zu bleiben und aus den mitgebrachten Pelzen Kleidung zu nähen sowie das Haus zu säubern. Liv wurde nicht einmal zur Schule geschickt, obwohl im Dorf durchaus viele Mädchen unterrichtet wurden.
»Wir gehen zur Zeremonie. Sie werden beschäftigt sein und nicht merken, dass du weg bist.«
»Aber zur Zeremonie dürfen nur Jungen und Männer«, erinnerte sie ihn.
Sofort hielt er das Pony an, stieg ab und nahm den Dolch heraus, den er von seinem Vater geerbt hatte. »Steig ab!«
»Was hast du vor?«, weinte sie, noch immer zitternd vor Kälte.
»Tu, was ich sage.« Es ist die einzige Möglichkeit, mögen es mir die Götter verzeihen, dachte er.
Sie stieg vom Pferd herunter und stand mit klappernden Zähnen vor ihm. Er nahm den Dolch und hob ihren Zopf an. »Nein«, rief sie, doch er hatte ihr das Haar bereits abgeschnitten.
Sie weinte entsetzlich und fasste sich an das noch schulterlange Haar. So trugen es die Männer hier am Polar. »Stell dich nicht so an. Du kommst mit in den Süden. Du musst aussehen wie ein Junge.« Er betrachtete sie. Sie war jung, noch keine Frau, und mit kurzen Haaren würde sie vielleicht als Bube durchgehen.
»Aber die anderen Jungen kennen mich doch«, sagte sie.
»Nur die aus unserem Dorf. Wir müssen sie überzeugen, nichts zu sagen.« Kiran war sich sicher. Und wenn es sein müsste, würde er auch allein mit Liv die Reise unternehmen. Aber eines würde er niemals tun: sie zurücklassen. »Willst du nicht bei mir sein?«, fragte er und umarmte sie.
»Doch. Aber …«
»Nichts aber. Ich bin dein Bruder. Ich pass auf dich auf«, versprach er ihr. Das hatte er ihr früher schon versprochen. Bereits vor dem Tod ihrer Eltern. Wenn Mutter und Vater arbeiteten oder fischten, hatte er immer auf Liv aufgepasst, auch als er selbst noch ein Knabe war. Und heute war er fast ein Mann!

Die Zeremonie ging schon fast zu Ende, als die beiden Geschwister dazu kamen. Sie hatten sich verspätet und die Dämmerung würde bald eintreten. Kiran sah seine Freunde tuscheln und auf Liv zeigen. Sofort, und als Erstes, wollte er zu ihnen gehen, um sie zu bitten, ihn nicht zu verraten, doch plötzlich kam ein Mann auf ihn zu und stellte sich ihm in den Weg. »Ihr seid spät«, sagte dieser. Er hatte dunkles Haar, was selten vorkam hier im Norden. Seine Augen funkelten in einem hellen Grün und er trug einen dicken Bart, sodass man seine Lippen kaum sah.
»Meine Sch… Mein Bruder und ich haben uns verspätet, weil es einen Notfall in der Familie gab«, erwiderte Kiran.
»Einen Notfall?« Der Mann zog eine Augenbraue hoch. Fragend sah er ihn an. Anschließen musterte er Liv. »Der ist aber noch keine sechzehn, noch nicht einmal dreizehn, schätze ich.«
»Doch. Mein Bruder ist fünfzehn, aber wir haben keine Eltern mehr und ich kann ihn nicht allein lassen. Deshalb muss er mit und seine Reise ein Jahr früher antreten«, log Kiran, doch der Mann unterbrach ihn mit einem tiefen Gelächter: »Niemals ist der Knabe fünfzehn.«
Kirans Herz raste. Er mochte es nicht zu lügen und am heutigen Tag ging es darum, von den Allmächtigen als Mann anerkannt zu werden. Ausgerechnet an diesem Tag log er – vor den Augen der Götter!
»Und außerdem hast du gerade behauptet, es gab einen Notfall in deiner Familie. Sind deine Eltern nun tot, oder nicht?«
»Ja…« Kirans Antwort kam zögerlich. »Mein Onkel und seine Frau erwarten ein Kind. In diesem Augenblick ist es so weit«, erfand er. Auch wenn die Ausrede nur zur Hälfte gelogen war, beruhigte sein sich Herzschlag nur wenig.
Der Fremde musterte die beiden. »Du wirst doch nicht vor deinen Göttern lügen, Junge?«
»Nein!« Bitte, bitte, verzeiht es mir, ihr Götter. Es ist doch ein Notfall!
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Kerl.
Kiran zuckte mit den Schultern.
»Ich bin das Stammesoberhaupt der sieben Stämme.« Seine Stimme klang immer ernster, je mehr er sagte und Kirans Nervosität nahm gleichermaßen zu.
»Ich würde Euch niemals anlügen«, log er dennoch weiter und Liv entglitt ein ängstlicher Schrei. Sie drückte sich die Hand vor den Mund. Bitte, Schwester, sei einfach still und spiel mit.
Das Stammesoberhaupt musterte erneut das Mädchen. »Stimmt das alles?«, fragte er sie.
»Ja!«, erwiderte Kiran energisch.
»Ich habe deinen Bruder gefragt.«
Erwartungsvoll sah der Fremde Liv an. Genauso Kiran. Sein Herz raste noch schneller und er wurde bleich. Bitte, sag nichts Falsches, flehte er in Gedanken.
Schließlich nickte Liv.
»Wie heißt du?«, fragte der Mann.
Liv setzte gerade an, um ihren Namen zu sagen, da redete Kiran dazwischen: »Er heißt Levi.«
»Mhhmm«, brummelte der Stammesführer ungläubig. »Schwört ihr beide bei den Göttern, dass ihr die Wahrheit sagt?«
»Ja!«, sagte Kiran laut und deutlich, während seine Schwester zögerte. Eindringlich sah er sie an. Zu seiner Verwunderung stimmte sie zu. »Ja. Das tun wir.« Und sie sagte es nicht einfach so und auch nicht zögerlich. Sie klang beinahe überzeugt.
»Ist mir auch egal«, murmelte der Mann endlich. »Dann lasst uns die Zeremonie beginnen. Ihr beide seit zu spät, weshalb wir euch nicht mehr auf der Tribüne vor aller Augen segnen können. Aber ich habe ein Herz für Kinder. Deshalb kommt herüber zu unserem Zeremonienmeister.«
Er winkte, sodass die beiden mit ihm gingen. Sie folgten ihm auf eine kleine Tribüne, von der Kiran zwar gehört, sie sich aber weitaus größer vorgestellt hatte. Mit etwas, das aussah wie ein Mistelzweig, wedelte der Meister über ihren Köpfen. Die beiden hatten keine Ahnung, was gerade geschah. Kiran redete sich ein, dass es vorhin erklärt wurde und sie einfach nur zu spät kamen.
»Hiermit segne ich euch zwei Brüder, sodass ihr den Weg meistern mögt und gesund nach Hause zurückkehrt. Mögen euch die Götter auf dem langen Weg beschützen …« Kiran hörte nicht zu, was der Mann von sich gab. Er sah zu seinen Freunden, die grinsten und auf Liv zeigten. Daraufhin sah er hinter die Jungen. Ihre Väter standen dort. Auch sie erkannten Liv. Kiran rutschte beinahe das Herz in die Hose, als er glaubte, so kurz vor der Abreise zu scheitern.
Einer der Väter sprach mit einem alten Mann, den Kiran nicht kannte. Sie sahen wieder und wieder zu den beiden herüber. Was sie wohl sagen? Würde dieser Vater mich verraten?, fragte er sich. Dahinter stand ein weiterer Mann. Den kannte Kiran sehr gut. Er war ein guter Freund seines Vaters gewesen und außerdem der Vater von Enrik, Kirans bestem Freund. Nun sprach auch dieser mit dem Fremden, der nicht aufhörte, die Kinder anzusehen. Offensichtlich redeten sie über Kiran und Liv. Kirans Magen begann vor Aufregung zu rebellieren, während Liv dem Meister aufgeregt zuhörte. Sie liebte Geschichten über die Götter und genoss den kurzen Moment des Ruhms – selbst dann, wenn sie sich dafür als Junge ausgeben musste. Doch Kiran schluckte schwer, als es zu Ende ging und er in die Richtung seiner Dorfleute lief. Der fremde, alte Mann sah ihn eindringlich an.
Die Geschwister stellten sich vor die anderen Jungen und der Meister sprach einige Worte zu ihnen. Kiran hörte nicht zu, der Alte starrte ihn an. Zumindest glaubte er das.
»… und nun geht euren Weg. Als Jungen geht ihr, als Männer kommt ihr zurück«, verstand er gerade noch die letzten Worte, und alle fingen an, durcheinander zu sprechen.
Sofort kamen seine Freunde eifrig angerannt. »Was hast du getan?«, flüsterte Enrik. »Warum ist Liv dabei?«
Kiran winkte seine vier besten Freunde zu sich. Daraufhin erzählte er ihnen, warum er Liv mitnehmen musste. Enrik schien es egal zu sein, aber die anderen lachten.
»Ich nehme doch kein Mädchen mit!«, rief Flinn laut und Enrik kniff ihn in den Unterarm. »Sei still!«
Auch Jonar und Jarle, die beiden Zwillingsbrüder, weigerten sich, Liv mitzunehmen. Sie gingen zu ihrem Vater, der noch immer mit dem alten Mann sprach und verpetzten Kiran und Liv. Daraufhin ging dieser auf den Zeremonienmeister zu, doch der alte Mann hielt ihn am Arm fest und redete auf ihn ein.
»Wer ist das?«, flüsterte Liv und deutete auf den betagten Mann, der sich gekrümmt auf den Gehstock stützte.
»Ich weiß es nicht«, gab Kiran zu.
Jonars und Jarles Vater ließ sich nicht behelligen und ging zum Stammesführer, der kurze Zeit später auf die Geschwister zuging. »Ihr habt vor den Augen der Götter gelogen …«
Der fremde alte Mann kam dazu. »Warum sollten sie gelogen haben?«, fragt er.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass der Jüngere ein Mädchen sei und nicht mit auf den Pilgerweg darf …«
Der alte Mann unterbrach ihn: »Diese Familie …«, begann er zu sprechen und zeigte auf die Zwillinge und ihren Vater. »Hasst uns schon seit Jahren. Sie würden alles sagen, um uns zu schaden.«
»Und wer seid Ihr?«
»Ich bin der Großvater dieser Kinder. Sie sind meine Enkelsöhne. Und meine Enkelkinder lügen nicht!«, behauptete der alte Mann, und Kiran fragte sich, weshalb er das tat.
»Ich dachte, sie hätten keine Familie?« Der Stammesoberste wurde stutzig.
»Seht mich an, ich bin sehr alt. Wer weiß, wie lange ich noch lebe«, sprach der Fremde und dem konnte Kiran nur zustimmen. »Ich fühle mich besser, wenn mein Ältester auf den Jüngeren aufpasst. Und mal ehrlich, es ist schon oft vorgekommen, dass ein erst Fünfzehnjähriger die Reise antritt. Zu meinen Zeiten war man erst vierzehn, als es losging.«
»Es steht Aussage gegen Aussage. Beweis, dass du ein Junge bist«, forderte der Stammesführer Liv auf.
Empört ging der angebliche Großvater dazwischen: »Wagt es nicht, dies von meinem Enkel zu erwarten!« Nun hob er den Gehstock an, sodass er kurz schwankte, und deutete angriffslustig auf den Stammesführer. »Was sind das für Gepflogenheiten?«
Dieser drehte sich zu der restlichen Dorfgemeinschaft um. Die Väter der anderen hielten sich heraus, doch Enrik sagte überzeugend: »Sie sagen die Wahrheit. Levi ist ein Junge und das kann ich bezeugen!« Bei seinen Worten fiel Kiran wieder ein, weswegen Enrik sein allerbester Freund war.
Ein anderer Vater, der von Flinn, nickte leicht und sah dabei den alten Mann an.
Der Stammesführer brummte: »Ist mir auch egal. Nimm deinen Bruder mit. Ist eure Sache.«

Wenig später hatten alle ihre Sachen beisammen. Liv gesellte sich zu den Jungen aus den anderen Dörfern, und stellte sich wie selbstverständlich vor; als Levi, der fünfzehnjährige, zu klein geratene Junge. Zu Kirans Erstaunen kam sie gut bei ihnen an. Zuerst belächelten sie den angeblichen Levi, doch mit Charme und Humor brachte Liv die anderen zum Lachen und freundete sich schnell mit ihnen an. Typisch Liv, dachte Kiran und schmunzelte. Wenigstens weint sie nicht mehr.
Die Zwillinge sahen sie wütend an und versuchten, die anderen Jungen auf ihre Seite zu ziehen, doch nach einem Gespräch mit seinem Vater kam nun auch Flinn auf Liv zu, und entschuldigte sich für sein Verhalten.
Kurz bevor es losging, sah Kiran den Fremden an, der für sie gelogen hatte. »Wer seid Ihr?«
»Nur ein Freund«, antwortete dieser.
»Ich kenne Euch nicht.«
»Sagen wir, ich kannte deinen Vater«, lächelte er und nickte Kiran zu. »Du bist ihm ähnlich, weißt du das?«
Wilder Stolz erfasste Kiran. »Danke. Und auch für das, was Ihr getan habt. Wenn ich als Mann zurückkomme, dann werde ich mich ehrenvoll bei Euch bedanken«, versprach er.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich wünsche mir nur, dass ihr beide gesund zurückkommt. Pass gut auf deine Schwester auf. Und noch etwas: Wenn der Weg zu gefährlich wird, dann kehrt um. Es ist keine Schande, wenn man es nicht schafft. Hast du gehört, Junge?«, flüsterte er.
Erschrocken starrte Kiran ihn an. »Natürlich ist es eine Schande!«
»Ist es nicht. Und ich bin mir sicher, die anderen Väter haben es ihren Söhnen ebenfalls gesagt.«
Kiran wandte sich von diesem verrückten alten Mann ab und nickte ihm noch ein letztes Mal zu, während er mit Liv aufs Pony stieg, um zum Hafen zu reiten, wo die Reise endgültig losgehen würde.



Kapitel 4 – Liv

Siebzehn Jungen waren sie, als die den Hafen betraten. Sechzehn richtige Jungen und ein halber, dachte sie und schmunzelte bei diesem Gedanken. Liv, die nun Levi hieß, hielt sich bedeckt, wie ihr Bruder es ihr gesagt hatte. Sie würde gern mit den anderen reden und Geschichten erzählen, doch Kiran wollte, dass sie sich von ihnen fernhielt. Zu groß war seine Angst, sie könnte enttarnt werden oder sich verplappern. Denn außer Kirans Freunden wusste keiner über Levis wahre Identität Bescheid. Die anderen Burschen kamen aus den Nachbardörfern. Kiran kannte die meisten von ihnen sehr wohl, da Nils ihn oft zum Handeln und Jagen mitgenommen hatte. Die Mädchen blieben jedoch zu Hause bei ihren Müttern und kümmerten sich um das Haus und den Hof. Liv war nie weit weg gewesen und kannte so gut wie niemanden.
Das kleine Mädchen kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nie zuvor war sie am Hafen gewesen. Niemals war sie irgendwo gewesen. Große Schiffe mit bunten Flaggen schmückten das Wasser und kleine Fischerboote tanzten um diese herum. Es sah aus wie ein Spiel, das niemals aufhörte. Legte eines der Schiffe an, legte ein anderes ab. Was machen die alle in unserem Land?, fragte sie sich irgendwann, als sie beim Zählen auf sieben große und elf kleine Frachter kam. Ich kenne keinen Einzigen aus dem Königreich, und doch schwimmen sie alle an unsere Küste. Liv wusste nur zu gut, dass es am Polar kaum Arbeit gab und im harten Winter gab es nicht einmal genug zum Essen für alle. Dennoch kam es ihr vor, als ob die Schiffe vom Nachbarkontinent regelmäßig hier anheuerten, um mit irgendetwas zu handeln. Aber mit was? Was brachten sie? Oder nahmen sie etwas mit? Es gab doch gar nichts!
Es handelte sich um Handelsschiffe der Hadrians, die die Kinder mit auf den südlichen Kontinent nahmen. Fürst Alois Hadrian verwaltete den Norden des Königreiches, durch das sie reisen mussten, um an den Vulkan zu gelangen. So viel wusste Liv bereits – viel mehr allerdings nicht.
Hadrians Hafen und der Polar, von dem sie und ihr Bruder stammten, handelten offensichtlich miteinander, anders konnte sie sich die vielen Schiffe nicht erklären. »Kiran?«, flüsterte sie neugierig. »Was machen die ganzen Frachter hier?«
Ihr Bruder zuckte nur mit den Achseln. Das hätte sie sich denken können, denn seit Monaten hatte er nur eines im Kopf: Ein Mann werden. Viel mehr interessierte ihn nicht.
Aber Liv war anders. Am liebsten würde sie tausend Fragen stellen und diese sofort beantwortet bekommen. Könnte sie anständig lesen, und besäße sie die Möglichkeit, sich Niederschriften zu kaufen, würde sie ihre Nase ununterbrochen hinein stecken, soviel wusste sie. Doch all ihre Fragen blieben ungeklärt. Sie musste sich ihre Meinung eben zusammenreimen.

Die Reise dauerte ein paar Tage, aber dieses Leben auf dem Schiff war gar nicht mal so übel. Die Jungen waren den Händlern sowie den Kapitänen willkommen, solange sie hart arbeiteten. Einige schrubbten das Deck, die Kräftigeren ruderten. Wieder andere wurden abends zum Kapitän in die Kajüte gerufen. Liv wusste nicht, was dort vor sich ging. Sie durfte nicht fragen, ihr Bruder hatte es verboten, doch wie sie mitbekam, wollte keiner der Jungen darüber reden, was in der Kajüte geschah. Sie selbst wurde noch nicht dorthin berufen, stattdessen schrubbte sie Tag für Tag das Deck und brachte den Ruderern frisches Wasser, damit sie durchhielten. Auch Kiran wurde zum Schrubben eingeteilt, obwohl er ein großer und kräftiger Bursche war. Doch mit ihm konnte der Kapitän nicht viel anfangen, denn Kiran ging es nicht gut. Die Schifffahrt machte ihm zu schaffen. Stets musste er sich übergeben. Über die Reling gebeugt, spuckte er jede Mahlzeit wieder heraus. Kein guter Start, wusste sie, denn das, was sie zu Essen bei sich trugen, reichte kaum aus und nun konnte ihr Bruder nichts mehr bei sich behalten. Jedes Mal, wenn der Wellengang schlimmer wurde, wusste sie, dass Kiran bleich und mit verzerrtem Gesicht in irgendeiner Ecke liegen würde.
Eines Abends, am fünften und letzten Tag der Überfahrt, saßen sie zusammen mit Enrik und Flinn sowie Jonar und Jarle. Sie alle stammten aus demselben Dorf und erzählten sich bei Mondschein an Deck Geschichten, die sie über das fremde Land gehört hatten.
»Mein Vater hat eine Zeit lang bei den Hadrians gearbeitet, während seiner Pilgerreise«, erzählte Flinn stolz. »Er kennt den Fürsten Alois Hadrian persönlich. Er musste sich etwas verdienen, damit er die weite Reise über zu essen hatte.«
»Mein Vater erzählte, wir sollen uns schnellstmöglich nach Süden bewegen. Die Hadrians seien böse Menschen«, wandte Enrik ein.
Jonar sah seinen Zwillingsbruder an. »Das habe ich auch gehört.«
Jarles nickte nur. Seine Augen wirkten traurig und verängstigt. Gar nicht so, wie Liv ihn kennengelernt hatte. Seit er die letzte Nacht beim Kapitän verbracht hatte, hatte er kein Wort mehr gesprochen, nicht einmal mit Jonar. Was ist mit diesem Jungen geschehen?, fragte sie sich, doch sie traute sich nicht, es laut zu fragen.
Außerdem wollte sie wissen, was Nils wohl Kiran erzählt haben mochte. Kiran, der mit jedem Tag auf dem Schiff bleicher und kränklicher erschien, hatte ihr gesagt, dass Nils ihn ebenfalls vor den Hadrians gewarnt hatte. Sie seien grausam und würden die jungen Pilger gerne als Sklaven für sich beanspruchen.
»Unser Volk gehört nicht zu König Louis Reich«, erzählte Enrik. »Deshalb sind wir in ihren Augen Gesetzlose. Wir haben keine Rechte wie ihre eigenen Leute. Sie können mit uns machen, was sie wollen und wie mein Vater behauptet, reißen sich die Hadrians alles unter den Nagel, was sie umsonst bekommen.«
»Aber mein Vater hat gut von Hadrian gesprochen«, widersprach Flinn erneut.
Enrik beachtete seine Aussage nicht und sprach weiter: »Wenn ihr mir vertraut, dann bringe ich uns schnellstmöglich aus dem Herrschaftsgebiet der Hadrians heraus – in die Hauptstadt. Mein Vater erklärte mir den Weg: immer Richtung Süden.«
Wütend stand Jonar auf. »Bist du jetzt unser Anführer, oder wie? Wer hat dich dazu ernannt?«
»Wer sonst? Das Mädchen? Der Kranke?« Enriks Blicke wanderten von Liv zu Kiran. Dann sah er auf Jarle. »Oder der Geschändete?«
»Was meinst du damit?« Erschrocken wagte Liv nun doch, das Wort zu ergreifen, und sah Jarle an.
Wie immer gab ihr niemand eine Antwort.
»Wie wäre es mit mir!«, rief Jonar in die Runde.
»Dann lass uns abstimmen«, schlug Enrik vor, seiner Sache sicher.
»Ich wähle Enrik!«, plapperte Liv überzeugend. Wen denn sonst? Er war der netteste und schlauste Junge, den sie kannte! Aber um fair zu bleiben, musste sie sich eingestehen, nicht sehr viele Burschen zu kennen.
»Mädchenstimmen zählen nicht!«, fauchte Jonar dazwischen.
Liv sprang auf. Das ließ sie sich nicht gefallen. Sie war Teil der Pilgerreise, genau wie die anderen! »Ich bin ein Junge, schon vergessen, Levi ist mein Name.«
Die Jungen lachten und Enrik griff nach ihrer Hand und zerrte sie hinab, damit sie sich wieder setzte. »Ich mag diesen Levi«, lächelte er und ließ ihre Hand los.
Oh Enrik, dachte Liv und versuchte, ihn nicht verliebt anzublicken. Die Haut an ihren Fingern, wo er sie berührt hatte, kribbelte.
»Ich stimme ebenfalls für Enrik«, sagte nun auch Flinn und der bleiche Kiran nickte ihnen zu. »Ich auch.«
»Dann wäre das ja geklärt«, grinste Enrik frech.
»Und was ist mit den anderen? Wir sind ja nicht allein«, flüsterte Liv besorgt.
»Die sind nicht aus unserem Dorf. Wir kennen sie kaum«, antwortete Enrik.
»Aber wir alle sollten zusammenbleiben und zusammenhalten. Wenn die Hadrians wirklich gefährlich sind …«
Enrik unterbrach sie: »Ihr habt mich gewählt und ich habe entschieden. Wir bleiben unter uns!«
Liv war es nicht gewohnt, sich etwas sagen zu lassen. Ihren großen Bruder konnte sie meistens um den Finger wickeln. Sie musste ihn nur einmal mit süßen Blicken ansehen und er tat, was sie wollte. »Ich fände es dennoch besser …«
Doch Enrik ließ sie nicht weitersprechen: »Wir müssen zusammenhalten. Das ist, was zählt. Sobald wir am Hafen sind, seilen wir uns von den anderen ab.«
Enrik ist der Tollste, dachte sie erneut. Er war Kirans bester Freund und war oft zu Besuch gewesen. Liv kannte ihn, seit sie ein kleines Mädchen war und in ihrer Fantasie stellte sie sich manchmal vor, ihn eines Tages zu heiraten. Er würde ihr ein Haus bauen. Eines, das genau neben dem lag, das Kiran später einmal gehören würde. Dann könnten sie drei für immer Freunde sein. Jedes Mal wenn sie Enrik ansah, musste sie sich zwingen, ihn nicht anzustarren. Er war groß und blond mit blauen Augen, wie alle Nordmänner eben. Obwohl Kiran genauso groß war, schien Enrik noch stattlicher zu sein. Und stark. Je älter er wurde, desto stärker sah er aus. Er könnte sie immer beschützen, das wusste sie. Doch von all diesen Träumen und Vorstellungen hatte sie nicht einmal ihrem Bruder erzählt. Er würde sie auslachen und verspotten. Vielleicht würde er seinen besten Freund auch nicht mit ihr teilen wollen. Immerhin wollte Kiran sie früher nicht immer mitspielen lassen. Lass deine Schwester doch mit uns spielen, hatte Enrik stets gesagt und sie spielten meist so lange, bis Emma Liv zu sich rief und ihr eine Aufgabe im Haus gab. Mädchen und Jungen spielen nicht zusammen, hatte Emma dann geschimpft.

Die Jungen und Liv schliefen wie alle anderen an Deck. Nur der Kapitän und seine Besatzung lebten unterhalb. Liv legte sich neben Enrik und betrachtete die Sterne. Sie fühlte sich glücklich und aufgeregt zugleich. Was sie wohl erwarten würde in diesem neuen Land, auf diesem fremden Kontinent? Alles schien noch so unwirklich und unglaubhaft und sie bekam Angst, aus einem Traum zu erwachen.



Kapitel 5 – Kiran

Am Hafen angekommen ging es Kiran schon besser. Endlich konnte er von diesem Schiff runter. Seine Beine wackelten noch ein wenig und seine Hände zitterten leicht. Doch es fühlte sich gut an, wieder auf festem Boden zu stehen.
Er sah sich um. Mindestens zwanzig große Schiffe mit verschiedenen Flaggen lagen am Hafen und schaukelten in den Wellen. Männer und Frauen arbeiteten und brachten Güter von den Booten herab. Fischer luden ihre Netze ein, Matrosen und Kapitäne kamen nach Hause oder stachen gerade in See. Frauen winkten mit Stofftaschentüchern ihren Männern hinterher, einige mit Tränen in den Augen, andere mit einem Lächeln auf den Lippen. Hier gab es noch mehr Schiffe, als am Polar, was heißen musste, dass sie auch andere Seewege ansteuerten.
Kiran schwankte, bis er Halt fand, doch Enrik hielt ihn fest, als er fast zu stürzen drohte. Er atmete tief ein. Die Luft roch nach Fisch und Kiran stellte fest, dass er Hunger bekam. Seit Tagen hatte er kaum etwas gegessen, und was er aß, hatte seinen schwachen Körper sofort wieder verlassen. Der Duft nach Fisch ließ seinen Magen knurren wie ein wütender Hund und er hielt sich die Hände an den Bauch. Wie gern würde ich jetzt einen Fisch essen, dachte er und das Wasser lief ihm im Mund zusammen.
Enrik führte ihn den Steg entlang. Rechts und links von ihnen standen Marktstände, die frischen Fisch, Meeresfrüchte und andere Leckereien anboten. Bauern und Händler tummelten sich umher, um das beste Angebot zu erhaschen. Kiran lief das Wasser im Munde zusammen, als er an den Köstlichkeiten vorbeiging. Unbemerkt kramte er in seiner Tasche, um nach Münzen zu suchen, doch es klimperte kaum. Ein paar Tigereisen waren alles, was ihm und Liv blieb, und er wusste nur zu gut, dass es für keine drei Tage reichen würde.
»Wie viele Münzen hast du mitbekommen?«, flüsterte er Enrik zu.
»Ein paar Braune«, antwortete dieser und ließ den wankenden Kiran los.
»Ich muss etwas essen.« Kiran sah zu Liv. Seine kleine Schwester lief brav hinter den Jungen her und sah sich mit funkelnden Augen auf dem Markt um. Ihr schien es zu gefallen. Ihr schien alles zu gefallen. Die Reise, die Neue Welt, in die sie eintauchen konnten und die vielen neuen Menschen, die sie treffen würde. In den letzten Tagen auf See, als ihm übel war, hatte seine Schwester kaum aufgehört zu plappern, doch er hatte ihr nur selten zugehört. Sie hatte tausend Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte. Woher auch? Was sollte ein einfacher Junge vom Polar schon wissen? Zum Glück konnte er die Seekrankheit als Vorwand verwenden, um ihrer Fragerei auszuweichen. Das würde in den kommenden Wochen schwieriger werden.
»Wir müssen als Erstes hier weg und uns von den anderen losreißen«, flüsterte Enrik. »Wenn wir sechs zusammenhalten, dann können wir die Reise schaffen. Ich vertraue niemandem, so wie es mir mein Vater gesagt hat.«
Kiran nickte nur. Sein Magen knurrte, doch Enrik ging strikt den Weg durch das kleine Hafendorf entlang, als kenne er den Weg.
»Wo sollen wir denn hin?«, rief Flinn von weiter hinten. Er zitterte, doch bei ihm verursachte es die Kälte. Die feuchte Seeluft, gepaart mit der Eiseskälte des Nordens zerrte an den Kräften der jungen Leute. Sie waren Frostwetter gewohnt, doch die verschwitzte, nasse Kleidung, die sie seit Beginn der Reise nicht gewechselt hatten, hielt sie nicht mehr genug warm. Zudem kam Flinn aus noch ärmeren Verhältnissen, als die anderen. Seine Mutter erkrankte vor vielen Jahren und konnte ihren Kindern keine ordentliche Kleidung nähen, so wie Emma es für Liv und Kiran tat. Flinns Vater und Nils waren gute Freunde, und Nils brachte der Familie ab und an etwas Fleisch von der Jagd. Stets heimlich, damit Emma es nicht mitbekam.
»Wo geht’s denn hin?«, fragte in diesem Moment eine raue, dennoch hohe, aber männliche Stimme. Die Jungen drehten sich um. Ein Mann saß hoch zu Ross und starrte musternd auf sie herab. Er trug einen grauen Umhang, mit einem Pferdekopf als Symbol. Stolz und Mut kennen keine Gnade, stand auf dem Umhang gestickt, der eher bescheiden als prunkvoll aussah.
»Der Leitspruch der Hadrians«, flüsterte Flinn Enrik ins Ohr. Enrik nickte wissend. »Wir sind Pilger aus dem Nordreich.«
»Vom Polar …«, murrte der Mann kurz und knapp, während er die Kinder von oben bis unten musterte. »Habt ihr einen Platz zum Schlafen?«
Jonar schüttelte eifrig den Kopf und Flinn plapperte aufgeregt: »Nein, noch nicht.«
Enrik kniff kurz aber heftig in Flinns Arm.
»Aua.«
»Wir benötigen keine Hilfe, aber danke«, entgegnete Enrik höflich.
Der Fremde strich sich mit Zeigefinger und Daumen über seinen langen, braunen Bart. Anschließend fragte er: »Wollt ihr euch nicht etwas dazu verdienen, bevor ihr auf eure lange Reise geht? Ich bräuchte ein paar Helfer auf meinem Landsitz.«
»Nein, danke!«, ging Kiran sofort dazwischen.
Der Mann sah ihn lachend an. »Du siehst halb verhungert aus, Junge. Kommt mit mir, ich gebe euch zwei Mahlzeiten am Tag und ein Dach über dem Kopf. Dafür müsst ihr euch um meine Tiere kümmern.« Er zeigte auf Liv. »Und das Mädchen kann im Haus helfen.«
Kiran sah erschrocken zu seiner Schwester.
»Ja, ich habe euch durchschaut. Ihr dachtet wohl, nur weil ihr dem Mädchen die Haare abschneidet, würde jeder denken, es sei ein Junge. Ich habe selbst sieben Kinder. Ich kann ein Mädel von einem Burschen unterscheiden.«
»Er sieht doch ganz nett aus«, flüsterte Flinn erneut.
»Halt dich raus!«, zischte Enrik und dankte noch einmal freundlich ab.
Doch nun brummelte auch Kirans Bauch so laut, dass es jeder hören konnte. Der Mann klang freundlich. Er schien reich zu sein. Nicht seine Kleidung sagte das aus, sondern die Art, wie er sich gab. Außerdem hatte er einen Hof, Tiere und anscheinend konnte er sich sieben Kinder leisten. Das musste doch bedeuten, dass er viel besaß. In Kirans Dorf galt man als reich, wenn man mehr als einen Esel durch den Winter brachte. Er musste nicht lange überlegen. Der Hunger siegte. »Ich denke auch, dass wir uns erst ein wenig dazuverdienen sollten, bevor wir weiterreisen.«
Enrik sah ihn böse an, doch die Kälte und der Hunger ließen die Aussicht auf eine warme Unterkunft und etwas zu Essen wichtiger werden als die Angst vor den Horrorgeschichten über die bösen Hadrians.
»Nun kommt schon«, sagte der Fremde und winkte die Kinder in seine Richtung. »Ich bin übrigens Roland Hadrian, der Fürst Alois´ Cousin.«
Den Kindern sagten all diese Namen nichts. Der Nachname Hadrian war geläufig, und im besten Fall hatte man von dem Kindskönig Loui gehört. Viel mehr wussten die Jungen nicht.
»Fürst Alois ist der Herrscher des Nordens«, erklärte er, als er in die fragenden Gesichter sah. »Meine Schwägerin wird sich freuen über Hilfe im Haus«, lächelte er, als er Liv zuzwinkerte.

Nichts als eine Scheune aus Holz, durch deren Latten der eisige Wind pfiff, gab man den Jungen als Unterkunft. Es fröstelte draußen und sie mussten bei den Eseln und Schafen schlafen, die nachts wenigstens ein wenig Wärme abgaben, wenn man sich nahe genug an sie legte. Eine Scheibe Brot bekam jeder von ihnen, ab und an einen Apfel, was als Festmahl galt.
Kiran machte sich Sorgen, denn Liv wurde sofort in das große Haus gebracht, seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Stets dachte er an sie. Er hatte doch niemanden sonst. Sein jüngster Bruder verstarb vor einigen Jahren und seine Eltern kurz darauf. Diesen Tag durchlebte er fast jede Nacht. Wieder und wieder. Niemals hatte er es jemandem erzählt, nicht einmal Liv, aber er träumte ständig davon.
Als wäre es gestern gewesen, dachte er zurück an den sonnigen Tag, der angenehm warm war für die sonst frostigen Temperaturen am Polar. Er half seinem Vater mit dem Boot, das dieser eigenhändig erbaut hatte. »Ich komme zurück mit einem Festmahl an Fisch. Dann laden wir Nils und Emma zum Essen ein!«, hatte er ihm mit einem strahlenden Lächeln versprochen. »Deine Mutter ist die weltbeste Köchin, und mein Magen knurrt schon bei dem Gedanken daran.« Kiran erinnerte sich an das Lachen, das dann aus seinem Vater herausbrach. Ihre Bäuche hatten immer geknurrt, doch Kiran hatte mitgelacht. Sein Vater konnte so laut lachen, dass die Vögel in den Bäumen davonflogen. Stets hatte er gut über seine Frau gesprochen. Er hatte allgemein immer gut über jeden geredet. Selbst über Emma, auch wenn Kirans Mutter ihre neue Schwägerin nicht ausstehen konnte. »Bleibt bei Emma und Nils, wir holen euch dort ab, sobald wir zurück sind.« Das waren seine letzten Worte gewesen. Niemals hatten sie die Kinder abgeholt.
Kiran erinnerte sich, was dann geschah. Nach ein paar Stunden, er und Liv hatten sich gerade um eine Handvoll Nüsse gestritten, fing der Himmel an, sich zu verdunkeln. Dicke, schwarze Wolken zogen vor die Sonne.
Er erinnerte sich an das Wetter, obwohl es ihm in jenem Moment nicht aufgefallen war. Immerhin waren er und seine Schwester schwer beschäftigt gewesen. Die Nüsse, die sie geschenkt bekommen hatten, faulten bereits, doch sie zählten genau sieben Stück. Eine Zahl, die man nicht durch zwei teilen konnte. Und Liv wollte nicht begreifen, dass er, als älterer Bruder ein Anrecht auf die siebte Nuss hatte. Daraufhin wurde sie so zornig, sodass sie sich auf den Boden schmiss und um sich schlug. Ihr Kopf wurde rot, als Kiran sich das letzte Nüsschen in den Mund steckte, es herunterschluckte und ihr dann auch noch frech die Zunge herausstreckte.
Sie wälzte sich kreischend am Boden, sodass Nils herbeikam und sie zur Besinnung bringen wollte. Erst dann wurde Kiran bewusst, dass es draußen zu stürmen und zu hageln anfing.
Ein paar sehr regnerische Tage und viele Tränen später, fand man die zerschellten Überreste des Fischerbootes an der Küste. An diesem Abend hatte es erneut gestürmt, und danach wochenlang geregnet.
Doch Liv werde ich nicht verlieren. Ich muss sie finden und dann weiterziehen, wusste er nur zu gut. Sie ist alles, was ich habe, und alles, was ich beschützen muss. Er machte sich Vorwürfe, immerhin hatte er sie gezwungen mitzukommen. Was wäre, wenn ihr etwas zustieß? In seiner Fantasie kam er eines Tages als gefeierter Mann zurück. Aber sollte Liv etwas geschehen … dann wäre ich nur ein einsamer, trauriger Kerl, der niemals wieder glücklich werden könnte.

Viele Tage vergingen, und die Jungen mussten hart arbeiten, was sie wenigstens warmhielt. Wieder und wieder fragte er nach seiner Schwester, doch der Stallmeister, Edmund, antwortete daraufhin nur: »Woher soll ich das wissen? Ich scher mich einen Scheiß um deine Schwester.«
Auch andere Angestellte hatte er befragt, doch nie eine Antwort bekommen. Abends, wenn sie im Stall lagen, betete er für Liv, dass die Götter sie beschützten und gut behüteten mochten.



Kapitel 6 – Loui

Diese Nacht schien eine der seltenen zu sein, in denen Loui sich nicht in den Schlaf weinte. Zu sehr bemühte er sich, das Löwenjunge zu bändigen. Das zehn Wochen alte Tier zeigte sich so leichtlebig und verspielt, dass es den kleinen König nur allzu oft kratzte und biss. Doch ohne jeden Zuspruch nahm er es mit in sein Bett, wo es an seinem Fußende schlief und nachts an seinen Zehen knabberte.
Seine Kinderfrau Desiree hatte den Kindskönig ausgeschimpft, als sie das Raubtier morgens im Bett vorfand, doch erhaben hatte sich Loui vor das Tier gestellt und ihr vermittelt, dass er nun der König sei und sich nichts mehr von ihr sagen lassen würde.
Desiree war Anfang dreißig, ledig und hatte selbst keine Kinder. Einst war sie Louis Amme gewesen, später sein Kindermädchen. Seit der Geburt des Königs lebte sie an seiner Seite, obwohl das damals noch recht junge Mädchen gerade einmal neunzehn Jahre zählte. Königin Marie Louise hatte sie eingestellt. Desiree wurde ihr als Zofe empfohlen, da sie aus einer gehobenen, edlen Familie abstammte; den Hallsteins. Doch schnell bemerkte die Königin, dass Desiree sich besser als Kinderfrau eignete, da sie sich freiwillig mehr mit dem kleinen Prinzen beschäftigte als mit irgendwelchen Kleidern, Bällen oder Frisuren.
Loui liebte Desiree, nicht so sehr, wie er seine Mutter geliebt hatte, doch Desiree wurde mehr und mehr ein Teil seines Lebens. Sie hatte ihn zwar mit viel Strenge, dennoch liebevoll erzogen, wenn der König und die Königin zu beschäftigt gewesen waren.
Einmal hatte sie ihm erzählt, sie sollte einen Mann guten Standes, aus der bekannten Familie Rosso heiraten. Doch Desiree hätte seinetwegen verzichtet, um sich um ihn zu kümmern. Irgendwie hatte Loui deshalb ein schlechtes Gewissen. Vor allem nun, da man ihn gekrönt hatte, und er sie nicht mehr brauchte. Wie sehe es denn aus, wenn der König noch immer seine Amme an der Seite hätte? Vor allem in der Öffentlichkeit durfte er nicht mit ihr gesehen werden. Immerhin nannten sie ihn den Kindskönig und belächelten ohnehin schon jede Kleinigkeit, die er tat.
Grob und boshaft hatte er Desiree aus seinen Gemächern gescheucht und sie angefaucht, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Und nun, da er König war, konnte sie ihn nicht mehr ausschimpfen. Sie durfte nicht.
Er lag unter seiner weichen Seidendecke und die Schuldgefühle überkamen ihn. War er rücksichtslos gewesen? Die liebe Desiree wollte schließlich nur das Beste für ihn. Er schüttelte die Gedanken von sich ab und strich mit der Hand nach unten, wo das Tierchen lag. Sanft streichelte er über dessen Fell. Müde drehte es sich und schmiegte seinen Kopf an Louis Bein. Der kleine Löwe war das schönste Geschenk, das Loui am Tag der Krönung bekommen hatte. Stiefel, Gürtel, Seidentücher und Umhänge besaß er zu Genüge. Auch einen Stall voller Pferde und anderer Tiere wies das Schloss bereits auf. Einige der feinen Damen an seinem Hofe besaßen sogar kleine Äffchen, die sie ankleideten und für sich tanzen ließen. Aber ein Löwe, ja, ein richtiger Löwe hatte niemand außer ihm. Und er würde ihn zu einem großen, starken und furchteinflößenden Tier heranziehen, sodass jeder Mann den jungen König respektieren müsste. Sein Onkel hatte Hunde, die bellen und beißen konnten. Sie wurden ausgebildet, um zu wachen und zu beschützen. Doch Loui besaß nun einen Löwen und in seinen Träumen malte er sich aus, wie man ihn den Löwenkönig nennen würden und den bisherigen Beinamen vergaß.
Er war soeben eingeschlafen, da schlug die Tür zu seinen Gemächern auf.
»König Loui, steht auf«, flüsterte eine vertraute Stimme. Es handelte sich um Desiree.
»Was ist denn?« Müde rieb er sich den Schlaf aus den Augen.
»Euer Onkel fragt nach Euch.«
»Zu solch später Stunde? Ich bin müde«, brummte er, drehte sich herum und zog die Decke über seinen Kopf.
»Er ist sehr krank. Er will Euch sehen«, sagte sie liebevoll und zog die Bettdecke wieder von seinem Gesicht herunter. Sanft streichelte sie über seine goldenen Locken. »Es geht ihm sehr schlecht.«
Der kleine König erschrak und sprang aus dem Bett. »Bring mir meine Gewänder«, rief er hastig.

Als er die Flügeltüren zu Sebastiens Gemächern aufriss, lag dieser schweißgebadet im Bett. Die großen Räume kannte Loui nur zu gut. Oft hatten er und sein Cousin Pierre sich durch die geheimen Gänge dorthin geschlichen und dem liebevollen Onkel kleine Streiche gespielt. Sebastien selbst hatte keine Kinder, da er der Hofgarde beigetreten war und sein Leben dem Schutz der Königsfamilie verpflichtete. Seine Gemächer kamen Loui stets viel zu klein vor, wenn er sie mit seinen eigenen und den ehemaligen Räumen seiner Eltern verglich. Doch sie schienen schöner und persönlicher zu sein. Hirschgeweihe, die Sebastien selbst gejagt hatte, hingen an den Wänden und Felle von Wölfen und Luchsen zierten den Boden und das große Himmelbett, in dem er nun lag.
»Kommt her, mein König«, bat er und winkte den Jungen zu sich. Er keuchte und hustete, nachdem er diese wenigen Worte ausgesprochen hatte.
»Was habt Ihr, Onkel?«, fragte Loui besorgt und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. Ohne Worte sah er es seinem Onkel an. Er befand sich in einem schlimmen Zustand. Bleich und zittrig lag er mit blauen Lippen in Decken eingehüllt. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn und die sonst grünen Augen waren rot und blutig.
Sebastien griff nach Louis Händen und packte diese so fest, dass Loui beinahe aufgeschrien hätte. Leicht erhob sich der kranke Mann, so gut es eben ging, und sagte: »Vertraut niemandem, hört Ihr? Niemandem!« Während er sprach, würgte er und gab andere seltsame Geräusche von sich.
Desiree und der Kammerdiener packten den König und rissen ihn von dem Sterbenden weg. »Fasst den König nicht an!«, schrie Desiree den Leidenden an, daraufhin drehte sie sich zu Loui herum. »Er hat die Seuche, Eure Majestät.«
»Keine … Seuche …«, stöhnte Sebastien. »Gift …«
»Gift?«, rief sein Kammerdiener erschrocken.
In diesem Moment rannte auch schon der Hofarzt herbei. »Tretet zur Seite, mein König«, warnte er und verbeugte sich zeitgleich. »Solange wir nicht wissen, was Euer Onkel krank gemacht hat, solltet Ihr nicht hier sein.«
»Ich bleibe bei ihm«, stotterte der junge König unsicher, doch Desiree zog ihn weg. »Lasst uns gehen, Euer Gnaden.«
»Hört mich an, Loui!«, rief Sebastien ihm hinterher. »Vertraut keinem! Hört Ihr! Niemandem an diesem Hof!«
Gerade als Desiree und Loui den Raum verließen, kam ihnen Alizee Dubois entgegen. Sie war seine Tante, sogar in zweifacher Hinsicht. Sie war die Schwester von Louis Mutter und die Witwe des verstorbenen Onkels. »Was ist passiert, mein König?«, fragte sie mehr als überrascht und drückte ihren Neffen an sich. »Ist Ihr Onkel tot? Es tut mir so leid.« Ihr großer, weißer Pudel schlich neben ihr her und schmiegte sich an ihren Rock.
»Er ist krank. Nicht tot«, erklärte Loui und riss sich von ihr weg. Alizee musste stets übertreiben. Aus allem machte sie ein Drama. Das hatte Königin Marie Louise andauernd an ihrer Schwester bemängelt. Loui erinnerte sich, dass seine Mutter und Tante Alizee ständig wegen irgendwelcher Dinge stritten. Einmal hatte er mitbekommen, dass eigentlich Alizee diejenige gewesen wäre, die seinen Vater, König Alain heiraten sollte. Doch dieser hatte sich in Marie Louise verliebt und sie zur Frau genommen. Und auch wenn Tante Alizee und seine Mutter im Clinch gelegen hatten, hatte sie Loui stets mit Respekt behandelt. Vor allem, nachdem seine Eltern verstarben, wich sie nur selten von seiner Seite. Sie half ihm mit Ratschlägen und bestand darauf, ihm als Ratgeberin zu dienen.
»Er ist nicht tot?« Einen Moment kam es Loui vor, als ob sie wenig erfreut wäre, doch schnell änderte sich ihre erstaunte Mine in ein breites Lächeln und sie sagte mit zärtlicher Stimme: »Dann ist ja gut.« Sie strich ihrem Neffen über den Lockenschopf, doch er drückte ihre Hand von sich. »Ich werde Euch stets zur Seite stehen und Euch in allen Entscheidungen unterstützen,« versprach sie ihm zum hundertsten Mal.
»Ich weiß, Tante. Und ich danke Euch.« Loui nickte.
Sie kam ihm in den letzten Wochen etwas aufdringlich vor. Vielleicht lag es daran, dass der Tod über ihnen schwebte. Schon vor einigen Jahren starb ihr Ehemann, Herzog Mathieu. Louis Vater hatte zwei Geschwister gehabt: Mathieu und Sebastien. König Alain hatte Alizee mit seinem jüngsten Bruder verheiratet, um sie zu beschwichtigen, oder weil er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sie als Gemahlin abgelehnt und stattdessen ihre Schwester geehelicht hatte. Tante Alizees Sohn, Pierre, war demnach Louis Cousin und einer der wenigen Altersgenossen, die er innerhalb der Schlossmauern kannte. Pierre und Loui hatten als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Die anderen Frauen am Hofe, drängten Marie Louise und Alizee dazu, ihre Söhne auf einen Landsitz der Familie zu bringen, wo sie von Kindermädchen und Lehrern erzogen und ausgebildet werden sollten. So, wie es alle anderen Adligen, die am Hofe lebten, taten. Doch das Einzige, was die Schwestern gemeinsam hatten, war die große Liebe zu ihren Kindern. Sie wollten die beiden Jungen um sich haben und selbst an deren Erziehung teilhaben.
Loui erinnerte sich, wie er mit Pierre aufgewachsen war. Er war wie ein Bruder für ihn. Zu oft hatte er seine Eltern angefleht, ein Geschwisterchen zu bekommen, und sogar manchmal dafür gebetet, obwohl er nicht einmal genau wusste, wie man das tat.
Seit Louis Eltern tot waren, hatte er Pierre kaum gesehen. Warum, wusste er nicht. Alizee dagegen schlich sich immer mehr in sein Leben. Einerseits störte es ihn, andererseits sah er ein kleines Stück seiner Mutter in ihr.

Noch in dieser Nacht starb Sebastien. Und die tränenfreie Nacht wurde zu einer weiteren, mit Tränen übersäten, die Loui niemals vergessen würde.